Wozzecks Welt

"Wir armen Leut" - die Bedürftigkeit, die Bitterkeit und Härte dieser Büchnerschen, dieser Bergschen - auch und immer noch dieser unseren Welt ist evident und gewaltig.

"Wir armen Leut" - dieses Motiv, von Büchner seinem Woyzeck" durchwoben, durchzieht in musikalischer Form auch die Oper von Berg und drängt geradezu, es nicht zu vergessen.

"Wir armen Leut" - auch nach zwei Jahrtausenden, die wir als "Christliche Zeitrechnung" bezeichnen, noch immer und immer mehr ein Thema höchster Aussagekraft über den modernen Menschen, längst nicht mehr nur soziale und sozialkritische Aspekte betreffend: Ist man nicht angesichts fast aller Entwicklungen unserer Welt geneigt, in diesen Klageruf auszubrechen, voll Schmerz und Wut?
Keine Entwicklung, kein Fortschritt, sei es in medizinischer, technischer, philosophischer oder sonstwelcher Hinsicht hat immer größere soziale, ökologische, wirtschaftliche, medizinische Krisen verhindern können; man mag sogar Bedenken hegen, ob nicht vielmehr jeder Fortschritt sogleich zwei Rückschritte nach sich zieht.

Keine der Fragen, die seit Erschaffung des Menschen den Menschen bewegen, wurde im Zuge der Erweiterung unserer Dimensionen wirklich gelöst; nicht zuletzt die Frage nach Gott oder, wissenschaftlich gesehen, die Frage nach Beschaffenheit und Sinn oder Unsinn unseres Universums und unseres Daseins bleibt offen. Die Entschlüsselung immer kleinerer Bausteine des Lebens führt zu immer größeren Fragen, größerer Zertrümmerung der Zusammenhänge. "Wie mit Spinnenbeinen tastet nicht nur Wozzeck, sondern tasten wir alle im Dasein herum und suchen und fragen.

"Wir armen Leut" - der sozialkritische Aspekt der Oper ist allgegenwärtig, ist der Hindergrund der Handlung.
Aber: Sind nicht alle Figuren des Stückes in der gleichen, armseligen Situation? Sind nicht alle suchende und Fragende?
Unsere "Wozzeck"-Welt: ein geschlossenes Gehäuse, mit Bewohnern unterschiedlichster sozialer Stellungen, aber in gleich verzweifelt-ahnungsloser Situation.

Interessanterweise ist gerade Wozzeck diejenige Figur, die ihre Fragen und Gefühle der Unzulänglichkeit aller Erkenntnis am konsequentesten zu artikulieren weiß.
Kein dumpfer Söldner, ist er der Inbegriff des Suchenden, dessen, der ein Zipfelchen der Welt so weit durchschaut, dass er schon an diesem Bisschen wahnsinnig wird.
Doktor und Hauptmann, diese grotesken Figuren, sind nicht nur deshalb in der "besseren" Lage, weil sie mehr Geld haben, sondern weil sie - und hierin entpuppen sie sich als die wahrhaft "komischen Figuren" - über andere Mechanismen verfügen, sich über die Abgründe vor ihren Füßen hinwegzuretten. Während dabei der Hauptmann sich in eine Art hysterischer Hypochondrie geradezu verflüchtet, ist der Doktor längst zu einem Medium mutiert, nur daran interessiert, die Fragestellungen der Welt an Leidensgenossen auszuloten.
Das Gegenstück zu Wozzeck ist der Tambourmajor: Nicht die Spur einer Frage; als reine Veräußerlichung poltert er blind umher, eine bloße Hülle.
Marie in ihrer totalen Verlassenheit und Ausgesetztheit sucht einen Ausweg aus ihrer Welt und verliert, indem sie ihn findet. Da sie schließlich eine Stärke in sich findet, die Stärke zu glauben und zu lieben, findet sie die Kraft, in diesen sinnlosen Tod hineinzugehen und ist so am Ende eigentlich traurige Siegerin.
Nur ihr Kind weiß noch um einen wahren Ausweg, mit der Fantasie der Kleinen. Bald wird es zu groß geworden sein und ihn vergessen, quasi nicht mehr hindurchpassen durch den schmalen Spalt des Geheimnisses, welches unsere Welt ausmacht.

Joachim Rathke

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