Aus "Südostschweiz", 28.06.2004

Olivier Berger: Papiersänger unterm Riesentisch

Zum kleinen Jubiläum macht sich das Opernfestival Engadin das schönste Geschenk selber: mit einer durch und durch gelungenen Inszenierung von Gioacchino Rossinis "Turco in Italia".

Das gibts noch: Sänger, die noch richtig spielen und in ihren Rollen aufgehen, statt sich nur im leider inzwischen gängigen Kampfsingen zu ergehen - wer kann lauter, höher, länger? Das gibts auch noch: Ein Ensemble, das von der Hauptrolle bis zum zweiten Violin-Pult mit Engagement bei der Sache ist, statt Dienst nach Vorschrift zu schieben. Das gabs noch nie: Das Opernfestival Engadin gastiert heuer erstmals in der Grande Halle des Hotels «Badrutts Palace».
Das Opernfestival Engadin hat sich in den fünf Jahren seit der Gründung und der ersten Produktion - damals noch in Pontresina - vom belächelten Anlass zu einem ernst zu nehmenden Schwerpunkt in der kulturellen Jahresagenda des Kantons entwickelt. Davon zeugt nicht nur das grosse Interesse an dem Anlass bei Sponsoren und Kulturinteressierten, sondern auch ein Budget, das inzwischen auf über 800 000 Franken angewachsen ist. Der Region bringt das Festival eine Wertschöpfung von über einer Million Franken.

Die Musik im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt des Festivals steht aber nicht das Finanzielle, sondern nach wie vor das Musiktheater, stehen namentlich die Werke von Rossini und Giuseppe Verdi, die bisher je zweimal zu Aufführungsehren kamen - vor zwei Jahren gabs dazu einmal Mozart. Wie hoch die künstlerischen Ansprüche der Organisatoren um Martin Grossmann sind, zeigt sich auch daran, dass für die neun Vorstellungen im Engadin junge, aber bereits bekannte Sängerinnen und Sänger engagiert werden.
Mit der Zusammenstellung des Ensembles hat der musikalische Leiter des Festivals, der aus den Niederlanden stammende Dirigent Jan Schultz, auch in diesem Jahr ein glückliches Händchen gehabt: Sämtliche Rollen sind nicht nur stimmlich hervorragend, sondern - wie eingangs erwähnt - auch mimisch brillant besetzt. Herausragend bei der Premiere am Samstag waren Alexandra Reinprecht als Fiorilla, Istvan Kovacs als Selim und Klaus Kuttler, der einen herrlich überdrehten Dichter Prosdocimo gab.

Mehr als gelungene Regie

Den vielleicht grössten Wurf hat Schultz aber mit der Verpflichtung des Berliner Regisseurs Joachim Rathke gelandet. Der 36-Jährige hat in der Vergangenheit mit einer ganzen Reihe hervorragender Dirigenten und Regiekollegen an erstklassigen Häusern gearbeitet. Für das Opernfestival Engadin hat sich Rathke einen inszenatorischen Kniff einfallen lassen, der sich gewaschen hat: Rossinis irrwitziges Verwechslungsspiel verlegt er fast ausschliesslich in den Kopf von Prosdocimo. Passend dazu gibts das Kostümkonzept von Imke Sturm-Krohne, welche ausser Dichter und Chor alle Mitwirkenden in papierene Kleider hüllt ...
Die Idee für die Inszenierung habe sich aus der Not ergeben, verriet Rathke der SO. Gleiches gilt wohl auch für die Bühne, die auf gerade einmal 16 Quadratmetern in einzelnen Szenen 24 Protagonistinnen und Protagonisten Platz bieten muss. Wie viel man mit diesen reduzierten Mitteln anfangen kann, erlebt das Publikum, wenn Selim mit seinem Schiff am Strand anlegt. Überhaupt lohnt sich der Besuch im Engadin. Auch das gibts nämlich noch: Oper mit starker Ausstrahlung am Rande der Schweiz.

Weitere Aufführungen: 29. Juni (Familienvorstellung), 1., 3., 4., 6., 8., und 10. Juli.
Informationen: www.opernfestival-engadin.ch.

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