Giovanni Pacini? Ein weithin versunkener Name aus der Sphäre
der Belcanto-Oper. 1796 in Catania zur Welt gekommen, hinterließ der
Komponist bei seinem Tod angeblich über hundert Opern. Schon in
Jugendjahren in Mailand debütierend, fand er sein durchweg in Italien
verbrachtes Leben bedeutend genug, um eine Autobiografie zu schreiben.
Findige Opernjäger können hier und da ein paar (apokryphe)
Mitschnitt-Zipfel von Pacinis Musik aufspüren. Man kann sich’s jetzt
aber auch bequemer machen und nach Gießen fahren. Im dortigen
Stadttheater ist derzeit Pacinis "Maria Tudor" ("Maria Regina
d’Inghilterra") zu erleben, ein Werk aus seiner mittleren
Schaffensperiode, 1843 komponiert. Belcanto aus der ersten Reihe,
sozusagen.
In Leopoldo Tarantinis Liberettofassung ist das von Victor Hugo
stammende Schauspielsujet lupenreine Kolportage. Politisiert wird
wenig. Zwei Frauen und zwei Männer im erotischen Clinch. Das sieht so
aus, als käme am Ende nichts als Frieden und Doppelhochzeit. Tut es
aber nicht. Der schurkische Favorit der Königin wird gegen deren Willen
hingerichtet; die Titelheldin, durch diesen Kummer gereift,
diszipliniert sich zu metallischer Staatsräson. Das ergibt einen
fulminant glitzernden ariosen Abgang, ein für sie nun doch hinlänglich
imperiales Finale. Zuvor hatte sie die weibliche Bühnenmacht mit einer
stimmlich nahezu gleichrangig behandelten Rivalin zu teilen. Nein,
nicht mit Elisabeth (die kommt bei Pacini überhaupt nicht vor), sondern
mit Clotilde Talbot. Ein schöner Besetzungszufall gestattete die
Pointe, dass die beiden (von Dietlind Konold in entsprechendes
Hochzeitsweiß gewandeten) Frauen im dritten Akt wie Zwillingsschwestern
auf der Bühne standen.
Pacinis Werk dokumentiert sehr sinnfällig den gediegenen Standard der
italienischen Oper um die vorletzte Jahrhundertmitte. Ein aus weiterer
Entfernung betrachtetes Phänomen, für das zeitstilische Züge
bezeichnender sind als personalstilische. Pacinis Orchesterrhetorik,
erst recht seine vokalen Topoi, kommen sehr in die Nähe Donizettis (der
eine bekanntere Oper über Maria Stuart schrieb),Bellinis, des jungen
Verdi, und nicht weniger fällt der breite Schatten Rossinis auf diese
temperamentvolle, dem kennerhaften common sense zugeneigte Kunst. Mit
einer zunehmend „subjektiven“ Diktion ging auch etwas an Popularität –
man könnte sagen: Opern-Gemeinsinns - verloren. Verständlich, dass die
Callas der Belcantosphäre besonders zugetan war - mit ihrer
gesteigerten Stimm-Subjektivität drückte sie auch stereotypen
Vokalmustern einen paradoxen Stempel von expressiver Einmaligkeit auf.
Pacinis Melodien hörend, glaubt man denn auch, echohaft die Stimme
jener Jahrhundertdiva zu vernehmen.
Das hat nichts mit Maßstabverlust zu tun. Gießen ist Gießen. Aber
diesmal doch auch ein bezaubernder Ort gesanglicher Vitalisierung im
gekonnten „Italianissimo“. Multinationale Ensemblequalitäten sind auch
in der mittelhessischen Provinz eine selbstverständliche Tugend. So
konnte man staunen über einen Tenor (Lenoardo Ferrando), der fähig war,
lang ausgehaltene Töne so exzellent zu formen, dass aus einem zarten
Pianissimo heraus allmählich ein freies Forte strömte, das dann wieder
in einen mustergültig decrescendierten Schluss zurück geführt werden
konnte. Fern aller Stimmstemmerei ein exemplarisch nuanciertes,
jugendlich-kraftvolles Singen, zudem verbunden mit einer
charakteristischen Bühnenpräsenz, die das Lässig-Ganovenhafte dieses
betrügerischen Gentleman noch weit über die Signale der playboymäßigen
Schottenkarohose hinaus klarstellte. Beeindruckend auch der Bariton
Adrian Gans als gnädig davongekommener Todeskandidat Ernesto - ein in
seiner virilen Vehemenz in jedem Moment zuverlässiges Organ. Maria
Chulkova als Clotilde; mädchenhaft, verletzlich und in den Duetten des
zweiten und dritten Akts eine der Königen ebenbürtige Gestalt. Diese
schließlich hatte in der Verkörperung von Giuseppina Piunti ein beinahe
schon übermenschliches Format, ausgestattet mit einer gleichsam
"gerüsteten" Stimme, mit umweglos und jäh anspringenden Spitzentönen,
aber auch einer wunderbar zeichnerisch klaren Art des Liniengesangs. In
der Darstellung waren Aspekte von Maskenhaftigkeit nicht zu übersehen.
Die Regie hinterfragte vor allem die Finalkonversation der
triumphierenden Imperatorin, entließ sie in ihrer eher
gespenstisch-illusionären Selbsterhöhung über einen imaginären
Bühnenrand ins Nichts.
Joachim Rathkes Inszenierung gab sich sicher erfahren, ohne in bloße
Routine abzugleiten. Lukas Noll beschäftigte die Drehbühne ausgiebig
und brachte das Bühnenbild damit zu bestmöglicher Wirkung - einen
kryptaähnlichen Innenraum mit Rundbögen und Spitzgiebeln, sozusagen
doppelt kodiert als Szenerie eines historischen Schaustücks wie als
Fantasy-Leidenschaft (zu Letzterem passte auch einiger blinkende
Kostümspuk der Choristen). Leicht plärrende, aber substanzielle
Eindrücke des (ziemlich viel beschäftigten) Chores. Bemerkenswert nicht
nur der Schwung, sondern auch die instrumentalen Subtilitäten des von
Eraldo Salmieri animierten Orchesters.
Gießen bleibt Gießen, also eine nicht glatt-Wegs den Himmel erstürmende
Theaterstadt. Und trotzdem geschieht hier mit der Intendantin Cathérine
Miville Außerordentliches. Eine Theaterarbeit, die sich billigen
Erfolgsrezepten verweigert und in der Oper jetzt konsequent die Kenner
und Liebhaber anlockt. Vor Kurzem wurde Flotows völlig vergessener
"Allessandro Stradella" wiederentdeckt, im Mai ist eine verkleinerte
Fassung von der Berg’schen "Lulu" mit einer eigenen Aufführungsvariante
für den dritten Akt aus der Hand des philologisch bewanderten Eberhard
Kloke geplant.
In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts zählte Giovanni Pacini
zu den populärsten Komponisten überhaupt. Umso erstaunlicher ist es,
dass sein Name heute nur noch wenigen Opernfreunden geläufig ist.
Obwohl der aus Catania stammende Musiker nach eigenen Angaben rund 100
Opern geschrieben hat, hat sich keine im Repertiore gehalten, auch
nicht in Italien. Von einigen wenigen sind allerdings Gesamtaufnahmen
erhältlich, so von "L’ultimo giorno di Pompei" und "Carlo di Borgogna".
Das in Sachen Opernausgrabung sehr rege Stadttheater Gießen hat sich
nun für die deutsche Erstaufführung von "Maria Tudor", die Pacini 1843
in nur 23 Tagen komponiert hatte, stark gemacht.
Beim Stoff hatte er auf ein Drama von Victor Hugo zurückgegriffen. Der
Inhalt sowohl der Vorlage als auch der Opernadaption erinnert stark an
Gaetano Donizettis "Roberto Devereux", als hätte eher Elisabeth I. für
die Titelfigur Pate gestanden und nicht etwa deren ältere Schwester,
die historische Maria I., die 1553 zur englischen Königin gekrönt
worden war. Die in Schauspiel wie Oper thematisierte Liaison zwischen
Maria und Fenimoore hat es jedenfalls in dieser Form nicht gegeben,
eignet sich dessen ungeachtet aber sehr gut für die Opernbühne.
Intrigenspiele an einem Königshof mit reichlich Liebeswirrungen waren
gerade in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts sehr beliebt.
Auch musikalisch erinnert "Maria Tudor" stark an die Bühnenwerke des
heute wesentlich bekannteren Kollegen aus Bergamo. Sie ist voll von
sprühenden Melodien, dramaturgisch klug aufgebauten großen Chor- und
Ensembleszenen sowie effektvollen Arien und Duetten. Es ist eine
Belcanto-Oper par excellence, die nicht leicht zu besetzten ist, da sie
gleich fünf wichtige Partien aufweist.
Musikalisch nahm der Abend nach einem zunächst etwas holprigen Start
schnell Fahrt auf. Die feine Rhythmik und der Melodienreichtum der
Partitur waren bei Eraldo Salmieri in guten Hände. Das Philharmonische
Orchester Gießen hat es in den vergangenen Spielzeiten häufig mit
Werken des Belcanto zu tun gehabt, und so fehlte es in nicht an der
notwendigen Italianitá und am transparenten und flexiblem Klangbild.
Jan Hoffmann hatte zudem den Chor, der in Pacinis Oper eine gewichtige
Rolle spielt, hervorragend einstudiert.
Die junge Russin Maria Chulkova, die seit Anfang 2011 zum Gießener
Ensemble gehört, sang die Clotilde mit sicher auf dem Atem liegender
Stimme, die mit der hohen Tessitura keine Mühe hatte. Auch sie bot
Belcanto-Gesang auf vorzüglichem Niveau. Dies lässt sich für die
übrigen Protagonisten nur mit Einschränkung sagen: Darstellerisch war
Adrian Gans als Ernesto überzeugend, während es ihm stimmlich an
Geschmeidigkeit und bruchlosen Übergängen fehlte. Riccardo Ferraris
herbes, bisweilen hart erscheinendes Timbre passte recht gut zum üblen
Intriganten und Machtpolitiker Churchill. Vor allem spielte der
italienische Bass die Rolle sehr glaubhaft, sodass man über manche
vokale Grobheit durchaus hinweghören konnte.
Absoluter Publikumsliebling in Gießen ist seit Jahren die Italienerin
Giuseppina Piunti. Als Maria Tudor überzeugte auch sie in erster Linie
szenisch, machte sie doch die Seelenqualen der Regentin deutlich, die
hin-und herschwankt zwischen Staatsräson und der Liebe zu Fenimoore.
Vokal bot Piunti ein Wechselbad der Gefühle zwischen feinen Piani und
herausgeschleuderten, scharfen und indifferenten Spitzentönen, die man
mit Belcanto kaum in Einklang bringen konnte. Bei allem Einsatz und
aller bemerkenswerter Identifikation mit der Partie hätte man sich mehr
stilistischen Feinsinn gewünscht. Das Premierenpublikum feierte sie für
ihre Leistung allerdings mit uneingeschränkten Ovationen.
Der Regisseur Joachim Rathke hat die im 16. Jahrhundert spielende
Handlung in einer nicht genau verorteten Zeit angesiedelt. Historisch
anmutende Kostüme wechseln sich so mit eher modern wirkenden ab, für
die jeweils Dietlind Konold verantwortlich zeichnet. Und neben dem
Degen wird ebenso eine Pistole gezogen, die zweifellos aus dem 20.
Jahrhundert stammt. Auch die Bühnenbildner von Lukas Noll mischen die
Gegenwart mit der Zeit der Tudors, sodass der Eindruck entsteht, dass
dieses Intrigenspiel zeitlos ist. Der durch die Gier nach Macht
angetriebene Politiker Gualtiero Churchill spielt dabei eine ganz
entscheidende Rolle. Die Regie lässt ihn als hohen klerikalen
Würdenträger auftreten, um zu verdeutlichen, dass Politik und Kirche in
der Geschichte der Menschheit oft miteinander verflochten waren. Das
hat Rathke überzeugend herausgearbeitet, wie die Personenführung
insgesamt die eigentliche Stärke dieser Produktion ist.
In Vergessenheit geratene Oper "Maria Tudor" von Giovanni
Pacini in grandioser Aufführung im Stadttheater zum ersten Mal auf
einer deutschen Bühne
Ein bisschen war es wie bei der triumphalen Uraufführung vor 169
Jahren: Minutenlang wogte der Beifall durchs vollbesetzte Haus. Für die
Sängerinnen, Sänger und den Dirigenten wurden Blumensträuße auf die
Bühne geworfen, und immer wieder brandeten Jubelrufe auf. Gefeiert
wurde ein rauschendes Belcanto-Fest, ein Fest der schönen Stimmen und
betörenden Melodien. Nach der überschwänglich gefeierten Premiere der
Oper "Maria Tudor" von Giovanni Pacini am Samstagabend im Gießener
Stadttheater bleibt nur noch eine Frage: Wie war es nur möglich, dass
ein so bühnenwirksames Werk für so viele Jahre in den Archiven
verschwand?
Mit dem Aufkommen Verdis wurden die Werke des Sizilianers Pacini
zunehmend von den Spielplänen verdrängt. "Maria Tudor" gelangte zum
Beispiel nie nach Deutschland. Das bislang Versäumte wurde jetzt in
Gießen in einer grandiosen, zweieinhalbstündigen Aufführung in der
Inszenierung von Joachim Rathke und unter der musikalischen Leitung des
Belcanto-Spezialisten Maestro Eraldo Salmieri nachgeholt. Die Handlung
geht auf eine Romanvorlage von Victor Hugo zurück: Tudor-Königin Maria,
die als Maria die Katholische oder als "Bloody Mary" in die Geschichte
einging, hat den schottischen Grafen Fenimoore zu ihrem Günstling und
Liebhaber gemacht. Als er sie mit einer anderen Frau (Clotilde)
betrügt, bringt sie ihn mittels einer feingesponnenen Intrige aufs
Schafott. Es dauert jedoch nicht lange, bis Maria Gewissensbisse plagen
und sich die Liebe zu Fenimoore wieder regt. Sie verfolgt einen
verhängnisvollen Plan, bei dem sie nicht davor zurückschreckt, einen
Unschuldigen zu opfern, um ihren Geliebten vor dem Tod auf dem Schafott
zu bewahren.
"Weltklasse!"
Dass sich Operndirektor Dieter Senft und Musikdramaturg Christian
Steinbock in ihrem Bemühen, vergessene Werke der Opernliteratur wieder
ans Licht der Öffentlichkeit zu befördern, weit über Gießen hinaus als
Raritäten-Ausgräber mit einem guten Gespür für Kostbarkeiten einen
Namen gemacht haben, zeigte sich am Premierenabend auch daran, dass
extra ein Bus aus Wien mit Belcanto-Liebhabern angereist war. Und die
waren hinterher überwältigt: "Weltklasse! Das gibt es noch nicht einmal
in Wien."
Genüssliches Schwelgen
Liebe, Verrat, Eifersucht und Hass: Die großen Gefühle haben natürlich
in der Partitur ihren Niederschlag gefunden. Unter Salmieris ebenso
zupackendem wie beschwingtem Dirigat haucht das Philharmonische
Orchester Gießen einer Musik Leben ein, die sich im Fahrwasser von
Rossini, Donizetti und Bellini bewegt und jeden Belcanto-Fan genüsslich
schwelgen lässt. Die melodische Einfallskraft eines durchaus
originellen Komponisten blüht auf, eingängige Arien und Duette wechseln
sich mit wirkungsvollen Chorszenen ab, kräftige Kontraste in Tempo,
Stimmung und Dynamik unterstreichen das dramatische Geschehen. Im
Finale des zweiten Aktes lässt Salmieri allerdings dem ständig lauter
werdenden Chor (ansonsten wie immer von Jan Hoffmann bestens
vorbereitet) im Verbund mit den mächtigen Solistenstimmen zu sehr
freien Lauf, so dass sich das Ganze zu einer ohrenbetäubenden "Tour de
Force" entwickelt. Als musikalisch sehr nuancenreich - und auch mit der
nötigen Delikatesse so dargeboten - erweist sich der dritte Akt mit
einem längeren reizvollen Klarinettensolo und der
erschütternd-eindrucksvollen Hinrichtungsprozession.
Das Bühnenbild von Lukas Noll führt an einen unterirdischen, düsteren
Schauplatz mit labyrinthartigen Schächten und Gängen. Wie in einer
Höhle hört man das laute Plätschern von Wassertropfen, und an den
blausilbern schimmernden Wänden sieht man die Wasserspiegelungen der
Themse. Wie in einem Insektenstaat mit Königin, Soldaten und Arbeitern
formiert sich auch dieser englische Hofstaat um seine Königin. Jeder
belauert jeden, und selbst die Königin kann sich ihrer Aufpasserin
(Odilia Vandercruysse) nur schwer erwehren. Die Kostüme von Dietlind
Konold verstärken diesen Eindruck: Der in schwarzes Lack mit schwarzen
Käppis gewandete Chor ist eine krabbelnde Termitenschar, und die mit
blonder Perücke (warum blond??) ausstaffierte Giuseppina Piunti sieht
in ihrem roten Kostüm mit roten Stiefeln, Maske und zerknitterter Krone
wie eine Insektenkönigin aus dem Märchen aus.
Regisseur Rathke entwickelt die Dramatik aus den inneren Vorgängen der
Figuren heraus. Daher gönnt er den Arien und Duetten zur Entfaltung
auch szenisch viel Raum, konzentriert sich auf das Wesentliche und
vermeidet jegliche Art von aufgesetzter Betriebsamkeit. Die Drehbühne
wird nur eingesetzt, wenn es nötig ist, einen Ort- oder
Stimmungswechsel herbeizuführen. Derart komprimiert gewinnt Rathke der
Handlung sehr intensive Momente ab, in denen es vor innerer Spannung
knistert.
Im Inneren kocht es.
Giuseppina Piunti, die schon so oft Heroinen des Belcanto auf der Bühne
des Stadttheaters verkörpert hat, meistert auch diesmal die schwierige,
mit Koloraturen gepflasterte Partie der Maria Tudor mit Bravour. Mit
ihrem beweglichen Mezzosopran nimmt sie jede Hürde und versteht es, in
ihren Gefühls- und Stimmungsschilderungen immer wieder leuchtende
Farben einzubinden. Darüber hinaus wirkt sie als Darstellerin sehr
glaubhaft, indem sie hinter der starken Herrscherin die im Inneren
zutiefst verletzte Frau zu erkennen gibt. Als sie vom Betrug ihres
Liebhabers erfährt, sieht man, wie es in ihr kocht.
Große Gefühle und Leidenschaften sind auch bei Maria Chulkova im Spiel,
die nach Puccinis Mimi nun wieder ihren makellos reinen Sopran zum
Vorschein bringt und das einfache Mädchen Clotilde mit enormer
emotionaler Hingabe ausstattet. Sicher in den Koloraturen und bei den
Spitzentönen, bildet sie die ideale Ergänzung zur vergleichsweise
dunklen Stimme von Giuseppina Piunti. Einer der intensivsten Momente
der Aufführung ist das Duett der beiden Frauen im Angesicht der
Hinrichtungsprozession: eine suggestive, ja gespenstische Szene.
Mit Sonnenbrille und karierter Hose (aha, Schotte!) spielt Leonardo
Ferrando den Fenimoore als arroganten Schnösel, der sich frech auf dem
Thron herum fläzt oder sich mit seinem Dolch die Fingernägel reinigt.
Stimmlich ist dieser Schwerenöter zwischen zwei Frauen jederzeit auf
der Höhe. Ferrandos Tenor verfügt über eine erhebliche Ausstrahlung,
und wenn er zum Schluss noch einmal seine Liebe zu Clotilde besingt,
tut er dies bewegend, fein nuanciert und nicht ohne Schmelz. Als
Ernesto bringt Adrian Gans seinen mächtig strömenden Bariton zur
Geltung - manchmal etwas zu stark. Als intriganter Kardinal Churchill
verschafft sich Riccardo Ferrari mit seinem volltönenden Bass von
Anfang an Respekt. Bei ihm muss man unwillkürlich an jene Verdi-Bässe
denken, bei denen sich mit dem ersten Ton das kommende Unheil ankündigt.
Das erlebt man selten in einem deutschen Openhaus: Heftiger
Beifall und "Bravi"-Rufe schon nach dem ersten Duett. Das setzte sich
den ganzen Premierenabend so fort. Nach drei Stunden Jubel für eine
Oper von 1843, die 169 Jahre später in Gießen ihre deutsche
Erstaufführung erlebte, "Maria Regina D’Inghilterra", deutscher Titel:
"Maria Tudor", von Giovanni Pacini. Entdeckt wurde eine Belcanto-Oper
voller Emotionalität und Wucht. Das Theater Gießen hat sich wieder
einmal bewährt als Wiederentdecker vergessener Opern.
Der Sizilianer Giovanni Pacini (1796 – 1867) schrieb gut 70 meist
äußerst erfolgreiche Opern, die heute niemand mehr kennt. Selbst seine
wohl besten Werke wie "Saffo", "Medea", "Maria Tudor" (komponiert in 23
Tagen) und "Lorenzini de Medici", verschwanden schnell wieder aus den
Theatern, als Verdi zur zentralen Figur wurde. "Maria Tudor" entstand
in einer Zeit des Übergangs, noch dominierte der Schöngesang, aber die
Musikdramatik kündigte sich bereits an. Der Stoff, den Pacini hier
behandelte, bot reiche Entfaltungsmöglichkeiten.
Pacini orientierte sich nicht an der historischen englischen Königin
Maria Tudor (1516 – 1559), sondern an dem Schauspiel "Maria Tudor" von
Victor Hugo, das die Titelheldin in eine fiktive Figur verwandelte. Der
1.Akt aber gehört Clotilde, die im Haus des Arbeiters Ernesto
aufgewachsen ist, der sie auch heiraten will. Doch er hat einen
Nebenbuhler, Fenimoore, einen Günstling der Königin. Clotilde ist
völlig hin und her gerissen zwischen diesen beiden Männern. Im 2. Akt
überschlagen sich die Ereignisse. Maria und Clotilde treffen
aufeinander. Es stellt sich heraus, dass Clotilde die einzige
überlebende Erbin des hingerichteten Earl of Talbot ist. Fenimoore und
Ernesto werden schwerer Verbrechen beschuldigt, beide trifft das
Todesurteil. Die Musik steigert sich in enorme Hitzegrade, die den
Liebesschwüren und Verzweiflungstaten die eigentliche Dramatik
verleihen. Die vier Protagonisten sind diesen Ausbrüchen glänzend
gewachsen, Giuseppina Piunti als Maria Tudor, Maria Chulkova als
Clotilde, Leonardo Ferrando als Fenimoore und Adrian Gans als Ernesto.
Das Orchester unter Eraldo Salmieri begleitet die Belcanto-Schlacht
hellwach.
Der 3. Akt überrascht danach mit leiser Musik, bestimmt von der
Vorahnung des Todes. Die Handlung changiert zwischen Liebe und Zweifel,
Verrat und Rache. Die Emotionen von Maria und Clotlide werden
intensiver, sind aber nun mehr nach Innen gerichtet. Hier zeigt Pacini
seine Meisterschaft, auch mit subtilen Mitteln zu arbeiten. Diese
Stimmung kulminiert in einem kleinen Trauermarsch, der die Verurteilten
zur Hinrichtung begleitet. Die große Schlussszene von Maria ist dann
aber wieder Belcanto pur, eine Bravourarie. Nachdem alle ihre Pläne
zuschanden geworden sind, wendet sich die Königin Gott zu, sucht
Vergebung für ihre Untaten, glaubt schon einen Lichtstrahl der
Vergebung zu sehen, aber die Regie konterkariert diese Hoffnung, sie
leuchtet die Bühne rot aus, das ist nicht der Himmel, sondern eher die
Hölle. Der Regisseur Joachim Rathke und der Bühnenbildner Lukas Noll
haben dieses Finale klug und zuerst fast unmerklich vorbereitet. Die
dunkle Drehbühne mit ihren Torbögen wird immer mehr zum Kerker, zum
Labyrinth, die Menschen sind eingeschlossen in ihren Leidenschaften,
ihrer Sehnsucht, ihrer Angst, ausgeliefert ihren Taten, die nicht
rückgängig zu machen sind.
Dem Stadttheater Gießen, das seit Jahren
immer wieder mit Opernraritäten aufwartet, gelang heuer eine
sehenswerte Ausgrabung mit "Maria Tudor" ("Maria
regina d’Inghilterra") von Giovanni Pacini. Die
romantische Oper, die 1843 in Palermo ihre Uraufführung hatte, wird in
Gießen als Deutsche Erstaufführung in italienischer Sprache mit
deutschen Übertiteln gezeigt.
Die Handlung, die auf ein Drama von Victor Hugo
fußt und in London im Jahr 1553 spielt, in Kurzfassung: Am Hof Maria
Tudors bricht das Chaos aus. Nicht nur, dass Lord Fenimoore, der von
der Königin zu ihrem Favoriten erwählt wurde, sie mit der jungen
Clotilde Talbot betrügt, die als einzige das Autodafé überlebte, dem
die Familie des Earl of Talbot zum Opfer gefallen war, scheint er sich
auch noch gegen ihr Leben verschworen zu haben. Aber Fenimoore wurde
Opfer einer teuflischen Intrige, die von der Königin nicht durchschaut
wird. Daher beschließt sie, ihren Geliebten ohne Gnade zu opfern und
ihn aufs Schafott zu bringen. Doch nach kurzer Zeit wird sie von
Gewissensbissen geplagt. Sie entschließt sich, einen Unschuldigen zu
opfern, um ihren Geliebten vor dem Tod zu bewahren, doch Clotilde und
Churchill, der Urheber der Intrige gegen Fenimoore, durchkreuzen ihren
Plan. Als sie erkennen muss, dass sie verloren hat, sucht sie Halt in
der Religion. Die historische Maria Tudor erhielt übrigens wegen ihres
harten Vorgehens gegen die Protestanten in England den Spitznamen
"Bloody Mary".
Die Inszenierung von Joachim Rathke läuft wie ein
spannender Krimi ab und glänzt vor allem durch eine exzellente
Personenführung. Schon während der Ouvertüre lässt er die beiden
Rivalinnen um die Liebe von Fenimoore in weißer Unterkleidung auftreten
und bei einer Hinrichtung zuschauen, die das Ende der Oper quasi
vorwegnimmt. Während Clotilde als armes Waisenmädchen gezeigt wird,
tritt Maria Tudor als unberechenbare Herrscherin und leidenschaftliche
Frau auf, wobei ihr Gesicht meist durch eine Maske halb verdeckt
bleibt. Raffiniert die Gestaltung der Bühne durch Lukas Noll,
der mittelalterliche Gemäuer in Form von Bögen baute, die sich durch
die Drehbühne in verschiedene Gemächer bis hin zu einem Kerker
verwandeln ließen und daher eine ideale Lösung für die Horrorhandlung
bedeuteten. Der Zeit entsprechend die Kostümentwürfe von Dietlind
Konold, die auch Farbe ins finstere Geschehen brachten und
zum Teil auch witzig wirkten, wie beispielweise die Gewandung von
Fenimoore als südländischer Lover mit Sonnenbrille. Für die trefflichen
Lichteffekte, die immer wieder für eine schauerliche Atmosphäre
sorgten, war Kati Moritz zuständig.
In der Titelrolle brillierte sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch
die hübsche Giuseppina Piunti, die in letzter Zeit
vom Sopran- ins Mezzofach wechselte. Mit ihrer farbenreichen Stimme
drückte sie alle Gefühle ihrer Rolle wunderbar aus – von Herrschsucht
über leidenschaftliche Liebe bis hin zur Trauer. Eine Idealbesetzung
als Maria Tudor! Nicht minder beeindruckend die junge, zierliche
Sopranistin Maria Chulkova als Clotilde Talbot, die
sich vom armen Waisenmädchen zur Intrigantin und damit gefährlichen
Rivalin der Königin entwickelt. Der aus Montevideo stammende Tenor Leonardo
Ferrando konnte als Fenimoore nicht nur das Herz Maria Tudors
gewinnen, sondern durch seine hell leuchtende, lyrische Stimme auch die
Herzen des Publikums. Auf seine weitere Karriere darf man gespannt
sein, auch wenn er in der Darstellung eines narzisstischen Liebhabers
ein wenig übertrieb.
Eine eindrucksvolle Charakterstudie bot der Bass Riccardo
Ferrari in der Rolle des intriganten Gualtiero Churchill, der
öfter auf dem Thronsessel Platz nimmt als Maria Tudor. Ebenfalls
stimmlich kraftvoll der Bariton Adrian Gans als
Ernesto Malcolm, der – von Churchill zum Meineid angestiftet – auch zum
Tode verurteilt, aber von Clotilde gerettet wird. Köstlich die
Sopranistin Odilia Vandercruysse in der stimmlich
kleinen Rolle des Pagen. Sie lugte wie ein Detektiv ständig hinter
Mauerecken und Torbögen hervor – wohl, um über das Treiben am Hof
bestens informiert zu sein oder ihre eigenen Intrigen spinnen zu
können? Stimmkräftig der Chor des Stadttheaters Gießen,
der einige starke Szenen hatte.
Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Belcanto-Komponist Giovanni
Pacini steht musikalisch zwischen Rossini und Verdi und besticht durch
nahezu übersprudelnden Melodienreichtum, den das Philharmonische
Orchester Gießen unter der Leitung von Eraldo
Salmieri dem Publikum hervorragend vermitteln konnte. Die vom
musikalischen Leckerbissen begeisterten Zuschauerinnen und Zuschauer
belohnten alle Mitwirkenden mit nicht enden wollendem Applaus, unter
den sich immer wieder "Brava"- und "Bravo"-Rufe für die exzellenten
Sängerinnen und Sänger sowie "Bravi"-Rufe für das Orchester mischten.
Wer die Belcanto-Meisterwerke Rossinis, Bellinis und
Donizettis liebt, wird auch von Pacinis "Maria Tudor" begeistert sein.
Zumal wenn die 1843 uraufgeführte Oper so mitreißend gesungen wird wie
in Gießen.
Opernfans kennen sich aus. Ihnen braucht man nicht zu erklären, aus
welchem Meisterwerk jener Liebesbrief stammt, den Regisseur Joachim
Rathke zu Beginn das Waisenmädchen Clotilde schreiben lässt. Es ist der
Text von Gildas Arie "Caro nome" (Teurer Name) aus Giuseppe Verdis
"Rigoletto" (1851), der bedeutendsten aller Opern nach einem Drama von
Victor Hugo. Der Franzose hat auch die Vorlage für Giovanni Pacinis
"Maria Tudor" geliefert. Und tatsächlich ähnelt Clotilde in ihrer
kindlichen Unschuld der zum ersten Mal verliebten Tochter des Hofnarren
Rigoletto, wie auch der um sie werbende Schwerenöter Fenimoore ein
Verwandter des leichtfertigen Herzogs von Mantua ist.
Weil sich die englische Königin Maria von Fenimoore betrogen glaubt,
schickt sie ihn aufs Schafott. Doch ihre Liebe ist größer als ihr Hass,
und sie versucht den Verführer zu retten, indem sie einen anderen
opfert: Clotildes Ziehvater und Verlobten Ernesto. Dem politischen
Ränkespiel am Hof muss sich jedoch auch die Königin beugen. Ihr
Günstling wird geköpft, Clotilde und Ernesto finden wieder zueinander -
und Maria? Die sucht Halt in der Religion: Einem Racheengel gleich
vernichtet sie mit dem Schwert in der Rechten und der Bibel in der
Linken ihren Insektenstaat, während der wabenähnlich gestaltete Palast
in Flammen aufzugehen scheint. Dieses von Rathke atemberaubend
inszenierte Schlussbild verweist auf die historische Maria Tudor, die
wegen ihres Inquisitionseifers "Bloody Mary" genannt wurde.
Liebe, Eifersucht, Hass und Intrige - das alles hat Pacini packend und
abwechslungsreich in Töne gesetzt, indem er sich der musikalischen
Sprache Rossinis, Bellinis und Donizettis bedient, ohne freilich deren
melodisches Genie zu erreichen. Wie seine Vorbilder stellt er an die
Sänger höchste Ansprüche, denen das Ensemble der umjubelten deutschen
Erstaufführung am Stadttheater Gießen in hohem Maße gerecht wird.
Giuseppina Piunti singt eine glutvolle Königin, ihr geschmeidig und
facettenreich geführter Mezzosopran wirkt nur in der Extremhöhe etwas
angestrengt und auch die Koloraturen gelingen ihr nicht mit jener
Eloquenz und Leichtigkeit, die Maria Chulkovas mädchenhafter, an
Zwischentönen reicher Sopran als Clotilde an den Tag legt. Leonardo
Ferrando meistert mit seinem schlanken Tenor mühelos die unangenehm
hoch notierte Partie des Fenimoore, begeistert zudem mit allen
Feinheiten der Belcanto-Kunst wie dem bruchlosen An- und Abschwellen
eines Tons auf dem selben Atem. Adrian Gans lässt als Ernesto seinen
machtvollen Bariton samtig strömen, fühlt sich aber am wohlsten, wenn
er ihn in der Höhe groß aufmachen kann.
Eraldo Salmieri atmet ideal mit den Sängern, widmet sich mit dem
Orchester hingebungsvoll den instrumentatorischen Feinheiten wie einem
bestrickend schönen Klarinettensolo und weiß das dramatische Feuer in
den Arien- und Aktschlüssen, wo Pacinis besondere Stärken liegen,
effektvoll anzuheizen - unterstützt vom kraftvoll auftrumpfenden Chor
in der Einstudierung von Jan Hoffmann.
Seit mehreren Jahren hat es sich das Stadttheater Gießen nun
schon zur Aufgabe gemacht, vergessene Werke der Opernliteratur
auszugraben. Ein Schwerpunkt bei diesen Wiederentdeckungen liegt im
Bereich des Belcanto, doch während in den vergangenen Spielzeiten
Raritäten von durchaus bekannten Komponisten wie Donizetti oder Bellini
auf dem Spielplan standen, hat man sich in dieser Spielzeit mit
Giovanni Pacini für einen Komponisten entschieden, bei dem neben dem
Werk auch der Name heutzutage in Vergessenheit geraten ist, obwohl er
in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts fast unangefochten an der
Spitze des späten Belcanto in Italien stand, da Rossini sich zu dieser
Zeit bereits von der Bühne verabschiedet hatte, Bellini bereits
verstorben war und Donizetti sich hauptsächlich auf europäischen Bühnen
außerhalb Italiens versuchte. Doch dieser große Ruhm war nur von kurzer
Dauer, denn eine neue Komponistengeneration um Giuseppe Verdi beendete
die Belcantotradition und schuf einen neuen stimmlich expressiveren
Stil, so dass auch für Maria Tudor 1858 auf Malta der letzte Vorhang
fiel, bevor die Oper 1983 für das Camden-Festival in London
wiederentdeckt wurde. So stellt die Gießener Produktion eine moderne
deutsche Erstaufführung dar.
Auch wenn die Rahmenhandlung der Oper auf der historisch belegten
Herrschaft der Tochter des Tudor-Königs Heinrich VIII. mit seiner
ersten Frau Katharina von Aragon, Maria Tudor, basiert, wird auf
Historizität im Libretto nicht nur verzichtet, sondern es werden der
Titelfigur zusätzlich charakterliche Eigenschaften zugesprochen, für
die wohl eher Marias jüngere Halbschwester und spätere Regentin,
Elisabeth I., Patin gestanden haben dürfte. So erinnert Marias Vorliebe
für den jungen Riccardo Fenimoore deutlich an Elisabeths Beziehung zu
dem Earl of Essex, dem Donizetti in der sechs Jahre vorher in Neapel
uraufgeführten Oper Roberto Devereux ein Denkmal gesetzt hatte.
Fenimoore betrügt die Königin mit der jungen Clotilde, die der Arbeiter
Ernesto als Säugling aufgenommen und erzogen hat und nun selbst
heiraten möchte. Churchill, ein einflussreicher Berater der Königin,
setzt alles daran, Fenimoore bei der Königin in Ungnade fallen zu
lassen. So schmiedet er gemeinsam mit Ernesto eine Intrige, nach der
Fenimoore der Königin angeblich nach dem Leben getrachtet haben soll.
Maria lässt Fenimoore und Ernesto in den Tower sperren. Zur gleichen
Zeit stellt sich heraus, dass Clotilde die jüngste Tochter des Earl of
Talbot ist, der samt seiner restlichen Familie bei religiösen Unruhen
von Marias Vater auf den Scheiterhaufen gebracht worden ist. Maria
erhebt Clotilde erneut in den Adelsstand und gibt ihr die Möglichkeit,
Fenimoore vor der Hinrichtung zu bewahren und heimlich mit ihm zu
fliehen. Doch Clotilde wird sich ihrer tiefen Gefühle für Ernesto
bewusst und beschließt, lieber ihn vor dem Schafott zu bewahren. So
muss Maria schweren Herzens erfahren, dass Fenimoore doch hingerichtet
worden ist und sucht fortan Halt in der Religion, worin sich vielleicht
der einzige Bezug zur historischen Maria widerspiegelt, die aufgrund
ihres harten Vorgehens gegen die Protestanten auch den Spitznamen
"Bloody Mary" erhielt.
Joachim Rathke konzentriert sich in seiner Personenregie vor allem auf
Parallelen zwischen den beiden weiblichen Hauptpartien. So lässt er
sowohl Clotilde, als auch Maria bereits während der Ouvertüre in einem
langen weißen Unterhemd auftreten und Zeuge einer Hinrichtung werden,
die das Ende schon vorwegnimmt. Bei scheinbar gleicher
Ausgangssituation für die beiden Frauen entwickeln sie sich in eine
gegensätzliche Richtung. Während Clotilde noch das verträumte kleine
Mädchen ist, das sich an ihr Kissen drückt und in ihr Tagebuch die
Worte aus Gildas berühmter Arie "Caro nome" schreibt, wird Maria in
einem langen schmal geschnittenen weißen Kleid und goldenem Umhang zu
einer unberechenbaren Herrscherin, wobei eine Maske meistens einen
großen Teil ihres Gesichtes verdeckt. Im zweiten Akt hat sie dieses
königliche Outfit jedoch abgelegt und wirkt in ihrem roten Kleid wie
eine Herrscherin, die von ihrer Leidenschaft beherrscht wird, wobei
ihre Jacke das karierte Muster von Fenimoores Hose aufgreift, um
anzudeuten, wie sie dem jungen Günstling erlegen ist. Clotilde hingegen
nähert sich im weiteren Verlauf der Handlung mit dem erneuten Aufstieg
in den Adelsstand in einem eng anliegenden weißen langen Kleid, das sie
nahezu königlich wirken lässt, einer wahren Regentin an, was auch durch
die Möglichkeit, den Geliebten vor der Hinrichtung zu bewahren,
unterstützt wird. Doch in dieser Rolle fühlt sie sich nicht wohl, und
so befreit sie sich am Ende aus dem engen Kleid, um wieder zu dem
einfachen Mädchen zu werden, das bei dem bodenständigen Ernesto Halt
findet.
Die ausgeklügelte Personenregie und die von Dietlind Konold entworfenen
stimmigen Kostüme werden durch ein grandioses Bühnenbild von Lukas Noll
unterstützt, das mit der Lichtregie von Kati Moritz eine regelrechte
Schauerromantik aufkommen lässt. So erinnern die diversen Bögen zum
einen an ein Verlies im Tower, zum anderen mit ihren Spitzen auch an
die Zacken einer Königskrone. Des Weiteren ermöglichen sie dem Chor und
den Protagonisten ein ständiges heimliches Beobachten der Handlung. So
bleibt kein Geheimnis verborgen. Durch Einsatz der Drehbühne lassen
sich aus diesen Bögen unterschiedliche Räume erzeugen. Die
Lichtreflexionen schimmern mal in Grün-Blau, was mit den Geräuschen von
tropfendem Wasser Assoziationen zu unterirdischen Kanälen erzeugt, mal
in Rot-Gelb, was einen Ausblick auf die blutige Verfolgung der
Protestanten mit zahlreichen Verbrennungen gibt. In der Mitte dieser
Bögen befindet sich eine weitere drehbare Scheibe mit Marias Thron,
einem riesigen Bett und zwei Stelen mit Glasaufsatz, wobei die eine die
Bibel und die andere die Königskrone enthält. Bemerkenswert ist, dass
Maria eher selten auf dem Thron sitzt, während Churchill diesen häufig
besetzt hält, was deutlich macht, wer an diesem Königshof der
eigentliche Drahtzieher ist. Maria befindet sich vor allem im zweiten
Akt eher im Bett, weil sie sich von ihren Gefühlen zu Fenimoore und
noch nicht durch die erforderliche Staatsräson lenken lässt.
Zu der durchweg überzeugenden Inszenierung kommt noch eine musikalische
Umsetzung, die das Publikum zu regelrechten Begeisterungsstürmen
veranlasst. Eraldo Salmieri, der in Gießen bereits für Maria Stuarda,
La Favorita und La Cenerentola die Publikumsgunst gewonnen hat, wird
seinem Ruf gerecht und zaubert mit dem Philharmonischen Orchester
Gießen auch für diese Belcanto-Rarität einen Klang aus dem Graben, der
in seiner Expressivität dem frühen Verdi sehr nahe kommt. Neben dem von
Jan Hoffmann einstudierten und um den Extrachor erweiterten Chor des
Stadttheaters Gießen, der sich gesanglich homogen und kraftvoll,
darstellerisch in den schwarzen Kostümen teils als bedrohliche Masse,
teils als leicht manipulierbarer Mob präsentiert, werden einige Partien
von Ensemble-Mitgliedern hochrangig besetzt. Da ist zunächst Odilia
Vandercruysse zu nennen, die die stimmlich kleine Rolle des Pagen mit
einer enormen Bühnenpräsenz ausstattet. So lugt sie stets recht
bedrohlich hinter einem Bogen hervor und wirkt unberechenbar und
gefährlich. Adrian Gans, der bereits in der letzten Spielzeit als
Titelfigur in Lo Schiavo glänzte, macht auch als Ernesto mit
kraftvollem Bariton deutlich, warum Clotilde ihm am Ende den Vorzug
gibt. Maria Chulkova begeistert als Clotilde mit mädchenhaftem,
lyrischem Sopran und bewegendem Spiel.
Giuseppina Piunti in der Titelrolle als Gast zu bezeichnen, entspricht
eigentlich nur bedingt der Realität, da sie seit nunmehr zehn Jahren
als faszinierende Sängerdarstellerin großer Belcanto-Heroinen wie
Lucrezia Borgia, Leonore aus La Favorita, Elisabetta aus Maria Stuarda
und Norma das Gießener Publikum begeistert. Mit der Rolle der Maria
Tudor fügt Piunti ihrem Repertoire nun eine weitere große Frauengestalt
des Belcanto hinzu, wobei ihre Stimmfärbung an einigen Stellen für die
Partie schon fast zu schwer wirkt. Dennoch stattet sie die
anspruchsvolle Partie mit expressiver Darstellung und großer Dramatik
aus. Vor allem ihre Auftrittskavatine im zweiten Akt, in der sie ihre
Besorgnis darüber ausdrückt, dass Churchill versuchen könnte, ihrem
Günstling Fenimoore zu schaden, und ihre Arie am Ende des dritten
Aktes, in der sie den Tod Fenimoores beklagt, legen ein Zeugnis von
Piuntis großartiger Stimmführung ab. Mit Leonardo Ferrando steht ihr
als Riccardo Fenimoore ein Sängerdarsteller zur Seite, dessen tenorale
Stimme keinerlei Wünsche offen lässt. Während Ferrando darstellerisch
einen eher unsympathischen Latin Lover mit Macho-Allüren mimt, lässt er
mit strahlendem, absolut höhensicherem Tenor die Damenherzen höher
schlagen. Dabei vermeidet er jegliches Forcieren, so dass seine Stimme
stets federleicht klingt. Höhepunkt seiner Darbietung stellt die
Cabaletta im dritten Akt dar, in der er hofft, der Hinrichtung doch
noch zu entgehen. Riccardo Ferrari gibt mit profundem Bass einen
durchtriebenen Churchill, der nur seinen eigenen Vorteil im Blick hat.
FAZIT
Diese Ausgrabung in Gießen sollte man sich wirklich nicht entgehen
lassen, weil die musikalische Leistung ebenso überzeugt wie die
szenische Umsetzung.
Es ist ein Drama um Liebe, Verrat, Intrigen und Eifersucht,
mit dem das Gießener Stadttheater am Samstagabend begeistert hat.
Mit Giovanni Pacinis Oper "Maria Tudor" ist dem Stadttheater eine
Entdeckung gelungen, die Opernfreunden eine sehenswerte Aufführung mit
wunderbarer Musik bietet. Die deutsche Erstaufführung des 1843 in
Palermo uraufgeführten Werks fand vor fast ausverkauftem Haus statt.
Die Oper basiert auf dem gleichnamigen Schauspiel von Victor Hugo.
Die Untreue kostet den verhassten Günstling den Kopf
Maria Chulkova spielte hingebungsvoll die junge Clotilde Talbot, die
als armes Mündel des Arbeiters Ernesto Malcolm nicht weiß, dass sie der
letzte Spross einer reichen Familie ist. Kurz vor der Hochzeit mit
Ernesto, den Adrian Gans bieder und seriös auf die Bühne bringt, hat
sie eine heiße Affäre mit dem Herzensbrecher Riccardo Fenimoore, den
Leonardo Ferrando mit sehr viel Schmelz verkörpert.
Fenimoore ist der Liebhaber der Königin Maria Tudor, die Giuseppina
Piunti verkörpert. Minister Gualtiero Churchill, gespielt von Riccardo
Ferrari, entdeckt die Untreue des verhassten Günstlings und sorgt
dafür, dass die Königin es erfährt. Sie verurteilt den Geliebten zum
Tod auf dem Schafott.
Das Stück hat alles, was ein guter Krimi braucht und wäre es von
Elisabeth George geschrieben, wäre Fenimoore am Ende sicher mit dem
Leben davon gekommen und hätte Maria Tudor geheiratet.
In Victor Hugos Version muss der junge Mann für die Untreue sterben und
der Langweiler Ernesto bekommt am Ende seine Clotilde und wird durch
sie zum reichen Mann.
Der große Reiz der Oper liegt aber nicht in der Krimistory, die im
nebligen London und später in einem Königsschloss spielt, das
Großartige sind die Musik und die vielen wunderbaren Arien, Duette und
Tutti. Etwa die Liebesschwüre zwischen Maria Chulkova und Adrian Gans,
in ergreifenden Harmonien wird die Liebe gemalt, Untreue und schlechtes
Gewissen fließen in zart gesetzten Disharmonien ein, immer wieder
münden die Duette in wunderbar komplexen Tonbildern.
Umwerfend im zweiten Akt das Duett von Giuseppina Piunti mit Maria
Chulkova, in dem die beiden hintergangenen Frauen sich verbünden, um
Fenimoore zu vernichten. Ebenso brillant und ergreifend die Arien, in
denen die beiden Frauen um die geliebten Männer klagen und sie dann
doch vor dem Schafott bewahren wollen.
Im Bühnenbild von Lukas Noll kommt die gesamt Bühnentechnik raffiniert
zum Einsatz und die Rundbögen, die sich bis weit in den Bühnenhimmel
fortsetzen, werden zunächst zu Brückenbögen und dann zu den düsteren
Hallen des Palastes. Chor und Extrachor, gekleidet in eine Mischung aus
Uniform und Ölzeug, agieren als Hofstaat ebenso überzeugend, wie als
neugierige Bevölkerung.
Unter der musikalischen Leitung von Eraldo Salmieri schafft das
Orchester eine überzeugende Klangwelt.
Regisseur Joachim Rathke macht aus dem vergleichsweise kleinen Theater
am Berliner Platz durch den raffinierten Einsatz aller technischen
Möglichkeiten ein ganz großes Opernhaus. "Marie Tudor" ist erneut eine
gelungene Darbietung in Gießen, die man uneingeschränkt empfehlen kann.