Aus "Opernwelt", Mai 2012

Hans-Klaus Jungheinrich: "Belcanto aus der ersten Reihe
Gießen entdeckt Giovanni Pacinis 'Maria Tudor'"

Giovanni Pacini? Ein weithin versunkener Name aus der Sphäre der Belcanto-Oper. 1796 in Catania zur Welt gekommen, hinterließ der Komponist bei seinem Tod angeblich über hundert Opern. Schon in Jugendjahren in Mailand debütierend, fand er sein durchweg in Italien verbrachtes Leben bedeutend genug, um eine Autobiografie zu schreiben. Findige Opernjäger können hier und da ein paar (apokryphe) Mitschnitt-Zipfel von Pacinis Musik aufspüren. Man kann sich’s jetzt aber auch bequemer machen und nach Gießen fahren. Im dortigen Stadttheater ist derzeit Pacinis "Maria Tudor" ("Maria Regina d’Inghilterra") zu erleben, ein Werk aus seiner mittleren Schaffensperiode, 1843 komponiert. Belcanto aus der ersten Reihe, sozusagen.
In Leopoldo Tarantinis Liberettofassung ist das von Victor Hugo stammende Schauspielsujet lupenreine Kolportage. Politisiert wird wenig. Zwei Frauen und zwei Männer im erotischen Clinch. Das sieht so aus, als käme am Ende nichts als Frieden und Doppelhochzeit. Tut es aber nicht. Der schurkische Favorit der Königin wird gegen deren Willen hingerichtet; die Titelheldin, durch diesen Kummer gereift, diszipliniert sich zu metallischer Staatsräson. Das ergibt einen fulminant glitzernden ariosen Abgang, ein für sie nun doch hinlänglich imperiales Finale. Zuvor hatte sie die weibliche Bühnenmacht mit einer stimmlich nahezu gleichrangig behandelten Rivalin zu teilen. Nein, nicht mit Elisabeth (die kommt bei Pacini überhaupt nicht vor), sondern mit Clotilde Talbot. Ein schöner Besetzungszufall gestattete die Pointe, dass die beiden (von Dietlind Konold in entsprechendes Hochzeitsweiß gewandeten) Frauen im dritten Akt wie Zwillingsschwestern auf der Bühne standen.
Pacinis Werk dokumentiert sehr sinnfällig den gediegenen Standard der italienischen Oper um die vorletzte Jahrhundertmitte. Ein aus weiterer Entfernung betrachtetes Phänomen, für das zeitstilische Züge bezeichnender sind als personalstilische. Pacinis Orchesterrhetorik, erst recht seine vokalen Topoi, kommen sehr in die Nähe Donizettis (der eine bekanntere Oper über Maria Stuart schrieb),Bellinis, des jungen Verdi, und nicht weniger fällt der breite Schatten Rossinis auf diese temperamentvolle, dem kennerhaften common sense zugeneigte Kunst. Mit einer zunehmend „subjektiven“ Diktion ging auch etwas an Popularität – man könnte sagen: Opern-Gemeinsinns - verloren. Verständlich, dass die Callas der Belcantosphäre besonders zugetan war - mit ihrer gesteigerten Stimm-Subjektivität drückte sie auch stereotypen Vokalmustern einen paradoxen Stempel von expressiver Einmaligkeit auf. Pacinis Melodien hörend, glaubt man denn auch, echohaft die Stimme jener Jahrhundertdiva zu vernehmen.
Das hat nichts mit Maßstabverlust zu tun. Gießen ist Gießen. Aber diesmal doch auch ein bezaubernder Ort gesanglicher Vitalisierung im gekonnten „Italianissimo“. Multinationale Ensemblequalitäten sind auch in der mittelhessischen Provinz eine selbstverständliche Tugend. So konnte man staunen über einen Tenor (Lenoardo Ferrando), der fähig war, lang ausgehaltene Töne so exzellent zu formen, dass aus einem zarten Pianissimo heraus allmählich ein freies Forte strömte, das dann wieder in einen mustergültig decrescendierten Schluss zurück geführt werden konnte. Fern aller Stimmstemmerei ein exemplarisch nuanciertes, jugendlich-kraftvolles Singen, zudem verbunden mit einer charakteristischen Bühnenpräsenz, die das Lässig-Ganovenhafte dieses betrügerischen Gentleman noch weit über die Signale der playboymäßigen Schottenkarohose hinaus klarstellte. Beeindruckend auch der Bariton Adrian Gans als gnädig davongekommener Todeskandidat Ernesto - ein in seiner virilen Vehemenz in jedem Moment zuverlässiges Organ. Maria Chulkova als Clotilde; mädchenhaft, verletzlich und in den Duetten des zweiten und dritten Akts eine der Königen ebenbürtige Gestalt. Diese schließlich hatte in der Verkörperung von Giuseppina Piunti ein beinahe schon übermenschliches Format, ausgestattet mit einer gleichsam "gerüsteten" Stimme, mit umweglos und jäh anspringenden Spitzentönen, aber auch einer wunderbar zeichnerisch klaren Art des Liniengesangs. In der Darstellung waren Aspekte von Maskenhaftigkeit nicht zu übersehen. Die Regie hinterfragte vor allem die Finalkonversation der triumphierenden Imperatorin, entließ sie in ihrer eher gespenstisch-illusionären Selbsterhöhung über einen imaginären Bühnenrand ins Nichts.
Joachim Rathkes Inszenierung gab sich sicher erfahren, ohne in bloße Routine abzugleiten. Lukas Noll beschäftigte die Drehbühne ausgiebig und brachte das Bühnenbild damit zu bestmöglicher Wirkung - einen kryptaähnlichen Innenraum mit Rundbögen und Spitzgiebeln, sozusagen doppelt kodiert als Szenerie eines historischen Schaustücks wie als Fantasy-Leidenschaft (zu Letzterem passte auch einiger blinkende Kostümspuk der Choristen). Leicht plärrende, aber substanzielle Eindrücke des (ziemlich viel beschäftigten) Chores. Bemerkenswert nicht nur der Schwung, sondern auch die instrumentalen Subtilitäten des von Eraldo Salmieri animierten Orchesters.
Gießen bleibt Gießen, also eine nicht glatt-Wegs den Himmel erstürmende Theaterstadt. Und trotzdem geschieht hier mit der Intendantin Cathérine Miville Außerordentliches. Eine Theaterarbeit, die sich billigen Erfolgsrezepten verweigert und in der Oper jetzt konsequent die Kenner und Liebhaber anlockt. Vor Kurzem wurde Flotows völlig vergessener "Allessandro Stradella" wiederentdeckt, im Mai ist eine verkleinerte Fassung von der Berg’schen "Lulu" mit einer eigenen Aufführungsvariante für den dritten Akt aus der Hand des philologisch bewanderten Eberhard Kloke geplant.



Aus "Opernglas", Mai 2012

L.-E. Gerth: "Maria Tudor"

In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts zählte Giovanni Pacini zu den populärsten Komponisten überhaupt. Umso erstaunlicher ist es, dass sein Name heute nur noch wenigen Opernfreunden geläufig ist. Obwohl der aus Catania stammende Musiker nach eigenen Angaben rund 100 Opern geschrieben hat, hat sich keine im Repertiore gehalten, auch nicht in Italien. Von einigen wenigen sind allerdings Gesamtaufnahmen erhältlich, so von "L’ultimo giorno di Pompei" und "Carlo di Borgogna". Das in Sachen Opernausgrabung sehr rege Stadttheater Gießen hat sich nun für die deutsche Erstaufführung von "Maria Tudor", die Pacini 1843 in nur 23 Tagen komponiert hatte, stark gemacht.
Beim Stoff hatte er auf ein Drama von Victor Hugo zurückgegriffen. Der Inhalt sowohl der Vorlage als auch der Opernadaption erinnert stark an Gaetano Donizettis "Roberto Devereux", als hätte eher Elisabeth I. für die Titelfigur Pate gestanden und nicht etwa deren ältere Schwester, die historische Maria I., die 1553 zur englischen Königin gekrönt worden war. Die in Schauspiel wie Oper thematisierte Liaison zwischen Maria und Fenimoore hat es jedenfalls in dieser Form nicht gegeben, eignet sich dessen ungeachtet aber sehr gut für die Opernbühne. Intrigenspiele an einem Königshof mit reichlich Liebeswirrungen waren gerade in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts sehr beliebt.
Auch musikalisch erinnert "Maria Tudor" stark an die Bühnenwerke des heute wesentlich bekannteren Kollegen aus Bergamo. Sie ist voll von sprühenden Melodien, dramaturgisch klug aufgebauten großen Chor- und Ensembleszenen sowie effektvollen Arien und Duetten. Es ist eine Belcanto-Oper par excellence, die nicht leicht zu besetzten ist, da sie gleich fünf wichtige Partien aufweist.
Musikalisch nahm der Abend nach einem zunächst etwas holprigen Start schnell Fahrt auf. Die feine Rhythmik und der Melodienreichtum der Partitur waren bei Eraldo Salmieri in guten Hände. Das Philharmonische Orchester Gießen hat es in den vergangenen Spielzeiten häufig mit Werken des Belcanto zu tun gehabt, und so fehlte es in nicht an der notwendigen Italianitá und am transparenten und flexiblem Klangbild. Jan Hoffmann hatte zudem den Chor, der in Pacinis Oper eine gewichtige Rolle spielt, hervorragend einstudiert.
Die junge Russin Maria Chulkova, die seit Anfang 2011 zum Gießener Ensemble gehört, sang die Clotilde mit sicher auf dem Atem liegender Stimme, die mit der hohen Tessitura keine Mühe hatte. Auch sie bot Belcanto-Gesang auf vorzüglichem Niveau. Dies lässt sich für die übrigen Protagonisten nur mit Einschränkung sagen: Darstellerisch war Adrian Gans als Ernesto überzeugend, während es ihm stimmlich an Geschmeidigkeit und bruchlosen Übergängen fehlte. Riccardo Ferraris herbes, bisweilen hart erscheinendes Timbre passte recht gut zum üblen Intriganten und Machtpolitiker Churchill. Vor allem spielte der italienische Bass die Rolle sehr glaubhaft, sodass man über manche vokale Grobheit durchaus hinweghören konnte.
Absoluter Publikumsliebling in Gießen ist seit Jahren die Italienerin Giuseppina Piunti. Als Maria Tudor überzeugte auch sie in erster Linie szenisch, machte sie doch die Seelenqualen der Regentin deutlich, die hin-und herschwankt zwischen Staatsräson und der Liebe zu Fenimoore. Vokal bot Piunti ein Wechselbad der Gefühle zwischen feinen Piani und herausgeschleuderten, scharfen und indifferenten Spitzentönen, die man mit Belcanto kaum in Einklang bringen konnte. Bei allem Einsatz und aller bemerkenswerter Identifikation mit der Partie hätte man sich mehr stilistischen Feinsinn gewünscht. Das Premierenpublikum feierte sie für ihre Leistung allerdings mit uneingeschränkten Ovationen.
Der Regisseur Joachim Rathke hat die im 16. Jahrhundert spielende Handlung in einer nicht genau verorteten Zeit angesiedelt. Historisch anmutende Kostüme wechseln sich so mit eher modern wirkenden ab, für die jeweils Dietlind Konold verantwortlich zeichnet. Und neben dem Degen wird ebenso eine Pistole gezogen, die zweifellos aus dem 20. Jahrhundert stammt. Auch die Bühnenbildner von Lukas Noll mischen die Gegenwart mit der Zeit der Tudors, sodass der Eindruck entsteht, dass dieses Intrigenspiel zeitlos ist. Der durch die Gier nach Macht angetriebene Politiker Gualtiero Churchill spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Die Regie lässt ihn als hohen klerikalen Würdenträger auftreten, um zu verdeutlichen, dass Politik und Kirche in der Geschichte der Menschheit oft miteinander verflochten waren. Das hat Rathke überzeugend herausgearbeitet, wie die Personenführung insgesamt die eigentliche Stärke dieser Produktion ist.



Aus "Gießener Anzeiger", 19.3.2012

Thomas Schmitz-Albohn: "Großes Belcanto-Fest"

In Vergessenheit geratene Oper "Maria Tudor" von Giovanni Pacini in grandioser Aufführung im Stadttheater zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne
Ein bisschen war es wie bei der triumphalen Uraufführung vor 169 Jahren: Minutenlang wogte der Beifall durchs vollbesetzte Haus. Für die Sängerinnen, Sänger und den Dirigenten wurden Blumensträuße auf die Bühne geworfen, und immer wieder brandeten Jubelrufe auf. Gefeiert wurde ein rauschendes Belcanto-Fest, ein Fest der schönen Stimmen und betörenden Melodien. Nach der überschwänglich gefeierten Premiere der Oper "Maria Tudor" von Giovanni Pacini am Samstagabend im Gießener Stadttheater bleibt nur noch eine Frage: Wie war es nur möglich, dass ein so bühnenwirksames Werk für so viele Jahre in den Archiven verschwand?
Mit dem Aufkommen Verdis wurden die Werke des Sizilianers Pacini zunehmend von den Spielplänen verdrängt. "Maria Tudor" gelangte zum Beispiel nie nach Deutschland. Das bislang Versäumte wurde jetzt in Gießen in einer grandiosen, zweieinhalbstündigen Aufführung in der Inszenierung von Joachim Rathke und unter der musikalischen Leitung des Belcanto-Spezialisten Maestro Eraldo Salmieri nachgeholt. Die Handlung geht auf eine Romanvorlage von Victor Hugo zurück: Tudor-Königin Maria, die als Maria die Katholische oder als "Bloody Mary" in die Geschichte einging, hat den schottischen Grafen Fenimoore zu ihrem Günstling und Liebhaber gemacht. Als er sie mit einer anderen Frau (Clotilde) betrügt, bringt sie ihn mittels einer feingesponnenen Intrige aufs Schafott. Es dauert jedoch nicht lange, bis Maria Gewissensbisse plagen und sich die Liebe zu Fenimoore wieder regt. Sie verfolgt einen verhängnisvollen Plan, bei dem sie nicht davor zurückschreckt, einen Unschuldigen zu opfern, um ihren Geliebten vor dem Tod auf dem Schafott zu bewahren.
"Weltklasse!"
Dass sich Operndirektor Dieter Senft und Musikdramaturg Christian Steinbock in ihrem Bemühen, vergessene Werke der Opernliteratur wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu befördern, weit über Gießen hinaus als Raritäten-Ausgräber mit einem guten Gespür für Kostbarkeiten einen Namen gemacht haben, zeigte sich am Premierenabend auch daran, dass extra ein Bus aus Wien mit Belcanto-Liebhabern angereist war. Und die waren hinterher überwältigt: "Weltklasse! Das gibt es noch nicht einmal in Wien."
Genüssliches Schwelgen
Liebe, Verrat, Eifersucht und Hass: Die großen Gefühle haben natürlich in der Partitur ihren Niederschlag gefunden. Unter Salmieris ebenso zupackendem wie beschwingtem Dirigat haucht das Philharmonische Orchester Gießen einer Musik Leben ein, die sich im Fahrwasser von Rossini, Donizetti und Bellini bewegt und jeden Belcanto-Fan genüsslich schwelgen lässt. Die melodische Einfallskraft eines durchaus originellen Komponisten blüht auf, eingängige Arien und Duette wechseln sich mit wirkungsvollen Chorszenen ab, kräftige Kontraste in Tempo, Stimmung und Dynamik unterstreichen das dramatische Geschehen. Im Finale des zweiten Aktes lässt Salmieri allerdings dem ständig lauter werdenden Chor (ansonsten wie immer von Jan Hoffmann bestens vorbereitet) im Verbund mit den mächtigen Solistenstimmen zu sehr freien Lauf, so dass sich das Ganze zu einer ohrenbetäubenden "Tour de Force" entwickelt. Als musikalisch sehr nuancenreich - und auch mit der nötigen Delikatesse so dargeboten - erweist sich der dritte Akt mit einem längeren reizvollen Klarinettensolo und der erschütternd-eindrucksvollen Hinrichtungsprozession.
Das Bühnenbild von Lukas Noll führt an einen unterirdischen, düsteren Schauplatz mit labyrinthartigen Schächten und Gängen. Wie in einer Höhle hört man das laute Plätschern von Wassertropfen, und an den blausilbern schimmernden Wänden sieht man die Wasserspiegelungen der Themse. Wie in einem Insektenstaat mit Königin, Soldaten und Arbeitern formiert sich auch dieser englische Hofstaat um seine Königin. Jeder belauert jeden, und selbst die Königin kann sich ihrer Aufpasserin (Odilia Vandercruysse) nur schwer erwehren. Die Kostüme von Dietlind Konold verstärken diesen Eindruck: Der in schwarzes Lack mit schwarzen Käppis gewandete Chor ist eine krabbelnde Termitenschar, und die mit blonder Perücke (warum blond??) ausstaffierte Giuseppina Piunti sieht in ihrem roten Kostüm mit roten Stiefeln, Maske und zerknitterter Krone wie eine Insektenkönigin aus dem Märchen aus.
Regisseur Rathke entwickelt die Dramatik aus den inneren Vorgängen der Figuren heraus. Daher gönnt er den Arien und Duetten zur Entfaltung auch szenisch viel Raum, konzentriert sich auf das Wesentliche und vermeidet jegliche Art von aufgesetzter Betriebsamkeit. Die Drehbühne wird nur eingesetzt, wenn es nötig ist, einen Ort- oder Stimmungswechsel herbeizuführen. Derart komprimiert gewinnt Rathke der Handlung sehr intensive Momente ab, in denen es vor innerer Spannung knistert.
Im Inneren kocht es.
Giuseppina Piunti, die schon so oft Heroinen des Belcanto auf der Bühne des Stadttheaters verkörpert hat, meistert auch diesmal die schwierige, mit Koloraturen gepflasterte Partie der Maria Tudor mit Bravour. Mit ihrem beweglichen Mezzosopran nimmt sie jede Hürde und versteht es, in ihren Gefühls- und Stimmungsschilderungen immer wieder leuchtende Farben einzubinden. Darüber hinaus wirkt sie als Darstellerin sehr glaubhaft, indem sie hinter der starken Herrscherin die im Inneren zutiefst verletzte Frau zu erkennen gibt. Als sie vom Betrug ihres Liebhabers erfährt, sieht man, wie es in ihr kocht.
Große Gefühle und Leidenschaften sind auch bei Maria Chulkova im Spiel, die nach Puccinis Mimi nun wieder ihren makellos reinen Sopran zum Vorschein bringt und das einfache Mädchen Clotilde mit enormer emotionaler Hingabe ausstattet. Sicher in den Koloraturen und bei den Spitzentönen, bildet sie die ideale Ergänzung zur vergleichsweise dunklen Stimme von Giuseppina Piunti. Einer der intensivsten Momente der Aufführung ist das Duett der beiden Frauen im Angesicht der Hinrichtungsprozession: eine suggestive, ja gespenstische Szene.
Mit Sonnenbrille und karierter Hose (aha, Schotte!) spielt Leonardo Ferrando den Fenimoore als arroganten Schnösel, der sich frech auf dem Thron herum fläzt oder sich mit seinem Dolch die Fingernägel reinigt. Stimmlich ist dieser Schwerenöter zwischen zwei Frauen jederzeit auf der Höhe. Ferrandos Tenor verfügt über eine erhebliche Ausstrahlung, und wenn er zum Schluss noch einmal seine Liebe zu Clotilde besingt, tut er dies bewegend, fein nuanciert und nicht ohne Schmelz. Als Ernesto bringt Adrian Gans seinen mächtig strömenden Bariton zur Geltung - manchmal etwas zu stark. Als intriganter Kardinal Churchill verschafft sich Riccardo Ferrari mit seinem volltönenden Bass von Anfang an Respekt. Bei ihm muss man unwillkürlich an jene Verdi-Bässe denken, bei denen sich mit dem ersten Ton das kommende Unheil ankündigt.



Aus "Die Deutsche Bühne", 19.3.2012

Wilhelm Roth: "Labyrinth der Leidenschaften"

Das erlebt man selten in einem deutschen Openhaus: Heftiger Beifall und "Bravi"-Rufe schon nach dem ersten Duett. Das setzte sich den ganzen Premierenabend so fort. Nach drei Stunden Jubel für eine Oper von 1843, die 169 Jahre später in Gießen ihre deutsche Erstaufführung erlebte, "Maria Regina D’Inghilterra", deutscher Titel: "Maria Tudor", von Giovanni Pacini. Entdeckt wurde eine Belcanto-Oper voller Emotionalität und Wucht. Das Theater Gießen hat sich wieder einmal bewährt als Wiederentdecker vergessener Opern.
Der Sizilianer Giovanni Pacini (1796 – 1867) schrieb gut 70 meist äußerst erfolgreiche Opern, die heute niemand mehr kennt. Selbst seine wohl besten Werke wie "Saffo", "Medea", "Maria Tudor" (komponiert in 23 Tagen) und "Lorenzini de Medici", verschwanden schnell wieder aus den Theatern, als Verdi zur zentralen Figur wurde. "Maria Tudor" entstand in einer Zeit des Übergangs, noch dominierte der Schöngesang, aber die Musikdramatik kündigte sich bereits an. Der Stoff, den Pacini hier behandelte, bot reiche Entfaltungsmöglichkeiten.
Pacini orientierte sich nicht an der historischen englischen Königin Maria Tudor (1516 – 1559), sondern an dem Schauspiel "Maria Tudor" von Victor Hugo, das die Titelheldin in eine fiktive Figur verwandelte. Der 1.Akt aber gehört Clotilde, die im Haus des Arbeiters Ernesto aufgewachsen ist, der sie auch heiraten will. Doch er hat einen Nebenbuhler, Fenimoore, einen Günstling der Königin. Clotilde ist völlig hin und her gerissen zwischen diesen beiden Männern. Im 2. Akt überschlagen sich die Ereignisse. Maria und Clotilde treffen aufeinander. Es stellt sich heraus, dass Clotilde die einzige überlebende Erbin des hingerichteten Earl of Talbot ist. Fenimoore und Ernesto werden schwerer Verbrechen beschuldigt, beide trifft das Todesurteil. Die Musik steigert sich in enorme Hitzegrade, die den Liebesschwüren und Verzweiflungstaten die eigentliche Dramatik verleihen. Die vier Protagonisten sind diesen Ausbrüchen glänzend gewachsen, Giuseppina Piunti als Maria Tudor, Maria Chulkova als Clotilde, Leonardo Ferrando als Fenimoore und Adrian Gans als Ernesto. Das Orchester unter Eraldo Salmieri begleitet die Belcanto-Schlacht hellwach.
Der 3. Akt überrascht danach mit leiser Musik, bestimmt von der Vorahnung des Todes. Die Handlung changiert zwischen Liebe und Zweifel, Verrat und Rache. Die Emotionen von Maria und Clotlide werden intensiver, sind aber nun mehr nach Innen gerichtet. Hier zeigt Pacini seine Meisterschaft, auch mit subtilen Mitteln zu arbeiten. Diese Stimmung kulminiert in einem kleinen Trauermarsch, der die Verurteilten zur Hinrichtung begleitet. Die große Schlussszene von Maria ist dann aber wieder Belcanto pur, eine Bravourarie. Nachdem alle ihre Pläne zuschanden geworden sind, wendet sich die Königin Gott zu, sucht Vergebung für ihre Untaten, glaubt schon einen Lichtstrahl der Vergebung zu sehen, aber die Regie konterkariert diese Hoffnung, sie leuchtet die Bühne rot aus, das ist nicht der Himmel, sondern eher die Hölle. Der Regisseur Joachim Rathke und der Bühnenbildner Lukas Noll haben dieses Finale klug und zuerst fast unmerklich vorbereitet. Die dunkle Drehbühne mit ihren Torbögen wird immer mehr zum Kerker, zum Labyrinth, die Menschen sind eingeschlossen in ihren Leidenschaften, ihrer Sehnsucht, ihrer Angst, ausgeliefert ihren Taten, die nicht rückgängig zu machen sind.



Aus "Der Neue Merker", 30.3.2012

Udo Pacolt: "Tolle Opernausgrabung in Gießen: MARIA TUDOR von Giovanni Pacini (Vorstellung: 29. 3. 2012)"

Dem Stadttheater Gießen, das seit Jahren immer wieder mit Opernraritäten aufwartet, gelang heuer eine sehenswerte Ausgrabung mit "Maria Tudor" ("Maria regina d’Inghilterra") von Giovanni Pacini. Die romantische Oper, die 1843 in Palermo ihre Uraufführung hatte, wird in Gießen als Deutsche Erstaufführung in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln gezeigt.
Die Handlung, die auf ein Drama von Victor Hugo fußt und in London im Jahr 1553 spielt, in Kurzfassung: Am Hof Maria Tudors bricht das Chaos aus. Nicht nur, dass Lord Fenimoore, der von der Königin zu ihrem Favoriten erwählt wurde, sie mit der jungen Clotilde Talbot betrügt, die als einzige das Autodafé überlebte, dem die Familie des Earl of Talbot zum Opfer gefallen war, scheint er sich auch noch gegen ihr Leben verschworen zu haben. Aber Fenimoore wurde Opfer einer teuflischen Intrige, die von der Königin nicht durchschaut wird. Daher beschließt sie, ihren Geliebten ohne Gnade zu opfern und ihn aufs Schafott zu bringen. Doch nach kurzer Zeit wird sie von Gewissensbissen geplagt. Sie entschließt sich, einen Unschuldigen zu opfern, um ihren Geliebten vor dem Tod zu bewahren, doch Clotilde und Churchill, der Urheber der Intrige gegen Fenimoore, durchkreuzen ihren Plan. Als sie erkennen muss, dass sie verloren hat, sucht sie Halt in der Religion. Die historische Maria Tudor erhielt übrigens wegen ihres harten Vorgehens gegen die Protestanten in England den Spitznamen "Bloody Mary".
Die Inszenierung von Joachim Rathke läuft wie ein spannender Krimi ab und glänzt vor allem durch eine exzellente Personenführung. Schon während der Ouvertüre lässt er die beiden Rivalinnen um die Liebe von Fenimoore in weißer Unterkleidung auftreten und bei einer Hinrichtung zuschauen, die das Ende der Oper quasi vorwegnimmt. Während Clotilde als armes Waisenmädchen gezeigt wird, tritt Maria Tudor als unberechenbare Herrscherin und leidenschaftliche Frau auf, wobei ihr Gesicht meist durch eine Maske halb verdeckt bleibt. Raffiniert die Gestaltung der Bühne durch Lukas Noll, der mittelalterliche Gemäuer in Form von Bögen baute, die sich durch die Drehbühne in verschiedene Gemächer bis hin zu einem Kerker verwandeln ließen und daher eine ideale Lösung für die Horrorhandlung bedeuteten. Der Zeit entsprechend die Kostümentwürfe von Dietlind Konold, die auch Farbe ins finstere Geschehen brachten und zum Teil auch witzig wirkten, wie beispielweise die Gewandung von Fenimoore als südländischer Lover mit Sonnenbrille. Für die trefflichen Lichteffekte, die immer wieder für eine schauerliche Atmosphäre sorgten, war Kati Moritz zuständig.
In der Titelrolle brillierte sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch die hübsche Giuseppina Piunti, die in letzter Zeit vom Sopran- ins Mezzofach wechselte. Mit ihrer farbenreichen Stimme drückte sie alle Gefühle ihrer Rolle wunderbar aus – von Herrschsucht über leidenschaftliche Liebe bis hin zur Trauer. Eine Idealbesetzung als Maria Tudor! Nicht minder beeindruckend die junge, zierliche Sopranistin Maria Chulkova als Clotilde Talbot, die sich vom armen Waisenmädchen zur Intrigantin und damit gefährlichen Rivalin der Königin entwickelt. Der aus Montevideo stammende Tenor Leonardo Ferrando konnte als Fenimoore nicht nur das Herz Maria Tudors gewinnen, sondern durch seine hell leuchtende, lyrische Stimme auch die Herzen des Publikums. Auf seine weitere Karriere darf man gespannt sein, auch wenn er in der Darstellung eines narzisstischen Liebhabers ein wenig übertrieb.
Eine eindrucksvolle Charakterstudie bot der Bass Riccardo Ferrari in der Rolle des intriganten Gualtiero Churchill, der öfter auf dem Thronsessel Platz nimmt als Maria Tudor. Ebenfalls stimmlich kraftvoll der Bariton Adrian Gans als Ernesto Malcolm, der – von Churchill zum Meineid angestiftet – auch zum Tode verurteilt, aber von Clotilde gerettet wird. Köstlich die Sopranistin Odilia Vandercruysse in der stimmlich kleinen Rolle des Pagen. Sie lugte wie ein Detektiv ständig hinter Mauerecken und Torbögen hervor – wohl, um über das Treiben am Hof bestens informiert zu sein oder ihre eigenen Intrigen spinnen zu können? Stimmkräftig der Chor des Stadttheaters Gießen, der einige starke Szenen hatte.
Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Belcanto-Komponist Giovanni Pacini steht musikalisch zwischen Rossini und Verdi und besticht durch nahezu übersprudelnden Melodienreichtum, den das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Eraldo Salmieri dem Publikum hervorragend vermitteln konnte. Die vom musikalischen Leckerbissen begeisterten Zuschauerinnen und Zuschauer belohnten alle Mitwirkenden mit nicht enden wollendem Applaus, unter den sich immer wieder "Brava"- und "Bravo"-Rufe für die exzellenten Sängerinnen und Sänger sowie "Bravi"-Rufe für das Orchester mischten.



Aus "Oberhessische Presse", 4.4.2012

Von Michael Arndt: "Umjubeltes Fest für Belcanto-Fans"

Wer die Belcanto-Meisterwerke Rossinis, Bellinis und Donizettis liebt, wird auch von Pacinis "Maria Tudor" begeistert sein. Zumal wenn die 1843 uraufgeführte Oper so mitreißend gesungen wird wie in Gießen.
Opernfans kennen sich aus. Ihnen braucht man nicht zu erklären, aus welchem Meisterwerk jener Liebesbrief stammt, den Regisseur Joachim Rathke zu Beginn das Waisenmädchen Clotilde schreiben lässt. Es ist der Text von Gildas Arie "Caro nome" (Teurer Name) aus Giuseppe Verdis "Rigoletto" (1851), der bedeutendsten aller Opern nach einem Drama von Victor Hugo. Der Franzose hat auch die Vorlage für Giovanni Pacinis "Maria Tudor" geliefert. Und tatsächlich ähnelt Clotilde in ihrer kindlichen Unschuld der zum ersten Mal verliebten Tochter des Hofnarren Rigoletto, wie auch der um sie werbende Schwerenöter Fenimoore ein Verwandter des leichtfertigen Herzogs von Mantua ist.
Weil sich die englische Königin Maria von Fenimoore betrogen glaubt, schickt sie ihn aufs Schafott. Doch ihre Liebe ist größer als ihr Hass, und sie versucht den Verführer zu retten, indem sie einen anderen opfert: Clotildes Ziehvater und Verlobten Ernesto. Dem politischen Ränkespiel am Hof muss sich jedoch auch die Königin beugen. Ihr Günstling wird geköpft, Clotilde und Ernesto finden wieder zueinander - und Maria? Die sucht Halt in der Religion: Einem Racheengel gleich vernichtet sie mit dem Schwert in der Rechten und der Bibel in der Linken ihren Insektenstaat, während der wabenähnlich gestaltete Palast in Flammen aufzugehen scheint. Dieses von Rathke atemberaubend inszenierte Schlussbild verweist auf die historische Maria Tudor, die wegen ihres Inquisitionseifers "Bloody Mary" genannt wurde.
Liebe, Eifersucht, Hass und Intrige - das alles hat Pacini packend und abwechslungsreich in Töne gesetzt, indem er sich der musikalischen Sprache Rossinis, Bellinis und Donizettis bedient, ohne freilich deren melodisches Genie zu erreichen. Wie seine Vorbilder stellt er an die Sänger höchste Ansprüche, denen das Ensemble der umjubelten deutschen Erstaufführung am Stadttheater Gießen in hohem Maße gerecht wird. Giuseppina Piunti singt eine glutvolle Königin, ihr geschmeidig und facettenreich geführter Mezzosopran wirkt nur in der Extremhöhe etwas angestrengt und auch die Koloraturen gelingen ihr nicht mit jener Eloquenz und Leichtigkeit, die Maria Chulkovas mädchenhafter, an Zwischentönen reicher Sopran als Clotilde an den Tag legt. Leonardo Ferrando meistert mit seinem schlanken Tenor mühelos die unangenehm hoch notierte Partie des Fenimoore, begeistert zudem mit allen Feinheiten der Belcanto-Kunst wie dem bruchlosen An- und Abschwellen eines Tons auf dem selben Atem. Adrian Gans lässt als Ernesto seinen machtvollen Bariton samtig strömen, fühlt sich aber am wohlsten, wenn er ihn in der Höhe groß aufmachen kann.
Eraldo Salmieri atmet ideal mit den Sängern, widmet sich mit dem Orchester hingebungsvoll den instrumentatorischen Feinheiten wie einem bestrickend schönen Klarinettensolo und weiß das dramatische Feuer in den Arien- und Aktschlüssen, wo Pacinis besondere Stärken liegen, effektvoll anzuheizen - unterstützt vom kraftvoll auftrumpfenden Chor in der Einstudierung von Jan Hoffmann.



Aus „online musik magazin“, 19.3.2012

Thomas Molke: "Schauerromantik im Belcanto"

Seit mehreren Jahren hat es sich das Stadttheater Gießen nun schon zur Aufgabe gemacht, vergessene Werke der Opernliteratur auszugraben. Ein Schwerpunkt bei diesen Wiederentdeckungen liegt im Bereich des Belcanto, doch während in den vergangenen Spielzeiten Raritäten von durchaus bekannten Komponisten wie Donizetti oder Bellini auf dem Spielplan standen, hat man sich in dieser Spielzeit mit Giovanni Pacini für einen Komponisten entschieden, bei dem neben dem Werk auch der Name heutzutage in Vergessenheit geraten ist, obwohl er in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts fast unangefochten an der Spitze des späten Belcanto in Italien stand, da Rossini sich zu dieser Zeit bereits von der Bühne verabschiedet hatte, Bellini bereits verstorben war und Donizetti sich hauptsächlich auf europäischen Bühnen außerhalb Italiens versuchte. Doch dieser große Ruhm war nur von kurzer Dauer, denn eine neue Komponistengeneration um Giuseppe Verdi beendete die Belcantotradition und schuf einen neuen stimmlich expressiveren Stil, so dass auch für Maria Tudor 1858 auf Malta der letzte Vorhang fiel, bevor die Oper 1983 für das Camden-Festival in London wiederentdeckt wurde. So stellt die Gießener Produktion eine moderne deutsche Erstaufführung dar.
Auch wenn die Rahmenhandlung der Oper auf der historisch belegten Herrschaft der Tochter des Tudor-Königs Heinrich VIII. mit seiner ersten Frau Katharina von Aragon, Maria Tudor, basiert, wird auf Historizität im Libretto nicht nur verzichtet, sondern es werden der Titelfigur zusätzlich charakterliche Eigenschaften zugesprochen, für die wohl eher Marias jüngere Halbschwester und spätere Regentin, Elisabeth I., Patin gestanden haben dürfte. So erinnert Marias Vorliebe für den jungen Riccardo Fenimoore deutlich an Elisabeths Beziehung zu dem Earl of Essex, dem Donizetti in der sechs Jahre vorher in Neapel uraufgeführten Oper Roberto Devereux ein Denkmal gesetzt hatte. Fenimoore betrügt die Königin mit der jungen Clotilde, die der Arbeiter Ernesto als Säugling aufgenommen und erzogen hat und nun selbst heiraten möchte. Churchill, ein einflussreicher Berater der Königin, setzt alles daran, Fenimoore bei der Königin in Ungnade fallen zu lassen. So schmiedet er gemeinsam mit Ernesto eine Intrige, nach der Fenimoore der Königin angeblich nach dem Leben getrachtet haben soll. Maria lässt Fenimoore und Ernesto in den Tower sperren. Zur gleichen Zeit stellt sich heraus, dass Clotilde die jüngste Tochter des Earl of Talbot ist, der samt seiner restlichen Familie bei religiösen Unruhen von Marias Vater auf den Scheiterhaufen gebracht worden ist. Maria erhebt Clotilde erneut in den Adelsstand und gibt ihr die Möglichkeit, Fenimoore vor der Hinrichtung zu bewahren und heimlich mit ihm zu fliehen. Doch Clotilde wird sich ihrer tiefen Gefühle für Ernesto bewusst und beschließt, lieber ihn vor dem Schafott zu bewahren. So muss Maria schweren Herzens erfahren, dass Fenimoore doch hingerichtet worden ist und sucht fortan Halt in der Religion, worin sich vielleicht der einzige Bezug zur historischen Maria widerspiegelt, die aufgrund ihres harten Vorgehens gegen die Protestanten auch den Spitznamen "Bloody Mary" erhielt.
Joachim Rathke konzentriert sich in seiner Personenregie vor allem auf Parallelen zwischen den beiden weiblichen Hauptpartien. So lässt er sowohl Clotilde, als auch Maria bereits während der Ouvertüre in einem langen weißen Unterhemd auftreten und Zeuge einer Hinrichtung werden, die das Ende schon vorwegnimmt. Bei scheinbar gleicher Ausgangssituation für die beiden Frauen entwickeln sie sich in eine gegensätzliche Richtung. Während Clotilde noch das verträumte kleine Mädchen ist, das sich an ihr Kissen drückt und in ihr Tagebuch die Worte aus Gildas berühmter Arie "Caro nome" schreibt, wird Maria in einem langen schmal geschnittenen weißen Kleid und goldenem Umhang zu einer unberechenbaren Herrscherin, wobei eine Maske meistens einen großen Teil ihres Gesichtes verdeckt. Im zweiten Akt hat sie dieses königliche Outfit jedoch abgelegt und wirkt in ihrem roten Kleid wie eine Herrscherin, die von ihrer Leidenschaft beherrscht wird, wobei ihre Jacke das karierte Muster von Fenimoores Hose aufgreift, um anzudeuten, wie sie dem jungen Günstling erlegen ist. Clotilde hingegen nähert sich im weiteren Verlauf der Handlung mit dem erneuten Aufstieg in den Adelsstand in einem eng anliegenden weißen langen Kleid, das sie nahezu königlich wirken lässt, einer wahren Regentin an, was auch durch die Möglichkeit, den Geliebten vor der Hinrichtung zu bewahren, unterstützt wird. Doch in dieser Rolle fühlt sie sich nicht wohl, und so befreit sie sich am Ende aus dem engen Kleid, um wieder zu dem einfachen Mädchen zu werden, das bei dem bodenständigen Ernesto Halt findet.
Die ausgeklügelte Personenregie und die von Dietlind Konold entworfenen stimmigen Kostüme werden durch ein grandioses Bühnenbild von Lukas Noll unterstützt, das mit der Lichtregie von Kati Moritz eine regelrechte Schauerromantik aufkommen lässt. So erinnern die diversen Bögen zum einen an ein Verlies im Tower, zum anderen mit ihren Spitzen auch an die Zacken einer Königskrone. Des Weiteren ermöglichen sie dem Chor und den Protagonisten ein ständiges heimliches Beobachten der Handlung. So bleibt kein Geheimnis verborgen. Durch Einsatz der Drehbühne lassen sich aus diesen Bögen unterschiedliche Räume erzeugen. Die Lichtreflexionen schimmern mal in Grün-Blau, was mit den Geräuschen von tropfendem Wasser Assoziationen zu unterirdischen Kanälen erzeugt, mal in Rot-Gelb, was einen Ausblick auf die blutige Verfolgung der Protestanten mit zahlreichen Verbrennungen gibt. In der Mitte dieser Bögen befindet sich eine weitere drehbare Scheibe mit Marias Thron, einem riesigen Bett und zwei Stelen mit Glasaufsatz, wobei die eine die Bibel und die andere die Königskrone enthält. Bemerkenswert ist, dass Maria eher selten auf dem Thron sitzt, während Churchill diesen häufig besetzt hält, was deutlich macht, wer an diesem Königshof der eigentliche Drahtzieher ist. Maria befindet sich vor allem im zweiten Akt eher im Bett, weil sie sich von ihren Gefühlen zu Fenimoore und noch nicht durch die erforderliche Staatsräson lenken lässt.
Zu der durchweg überzeugenden Inszenierung kommt noch eine musikalische Umsetzung, die das Publikum zu regelrechten Begeisterungsstürmen veranlasst. Eraldo Salmieri, der in Gießen bereits für Maria Stuarda, La Favorita und La Cenerentola die Publikumsgunst gewonnen hat, wird seinem Ruf gerecht und zaubert mit dem Philharmonischen Orchester Gießen auch für diese Belcanto-Rarität einen Klang aus dem Graben, der in seiner Expressivität dem frühen Verdi sehr nahe kommt. Neben dem von Jan Hoffmann einstudierten und um den Extrachor erweiterten Chor des Stadttheaters Gießen, der sich gesanglich homogen und kraftvoll, darstellerisch in den schwarzen Kostümen teils als bedrohliche Masse, teils als leicht manipulierbarer Mob präsentiert, werden einige Partien von Ensemble-Mitgliedern hochrangig besetzt. Da ist zunächst Odilia Vandercruysse zu nennen, die die stimmlich kleine Rolle des Pagen mit einer enormen Bühnenpräsenz ausstattet. So lugt sie stets recht bedrohlich hinter einem Bogen hervor und wirkt unberechenbar und gefährlich. Adrian Gans, der bereits in der letzten Spielzeit als Titelfigur in Lo Schiavo glänzte, macht auch als Ernesto mit kraftvollem Bariton deutlich, warum Clotilde ihm am Ende den Vorzug gibt. Maria Chulkova begeistert als Clotilde mit mädchenhaftem, lyrischem Sopran und bewegendem Spiel.
Giuseppina Piunti in der Titelrolle als Gast zu bezeichnen, entspricht eigentlich nur bedingt der Realität, da sie seit nunmehr zehn Jahren als faszinierende Sängerdarstellerin großer Belcanto-Heroinen wie Lucrezia Borgia, Leonore aus La Favorita, Elisabetta aus Maria Stuarda und Norma das Gießener Publikum begeistert. Mit der Rolle der Maria Tudor fügt Piunti ihrem Repertoire nun eine weitere große Frauengestalt des Belcanto hinzu, wobei ihre Stimmfärbung an einigen Stellen für die Partie schon fast zu schwer wirkt. Dennoch stattet sie die anspruchsvolle Partie mit expressiver Darstellung und großer Dramatik aus. Vor allem ihre Auftrittskavatine im zweiten Akt, in der sie ihre Besorgnis darüber ausdrückt, dass Churchill versuchen könnte, ihrem Günstling Fenimoore zu schaden, und ihre Arie am Ende des dritten Aktes, in der sie den Tod Fenimoores beklagt, legen ein Zeugnis von Piuntis großartiger Stimmführung ab. Mit Leonardo Ferrando steht ihr als Riccardo Fenimoore ein Sängerdarsteller zur Seite, dessen tenorale Stimme keinerlei Wünsche offen lässt. Während Ferrando darstellerisch einen eher unsympathischen Latin Lover mit Macho-Allüren mimt, lässt er mit strahlendem, absolut höhensicherem Tenor die Damenherzen höher schlagen. Dabei vermeidet er jegliches Forcieren, so dass seine Stimme stets federleicht klingt. Höhepunkt seiner Darbietung stellt die Cabaletta im dritten Akt dar, in der er hofft, der Hinrichtung doch noch zu entgehen. Riccardo Ferrari gibt mit profundem Bass einen durchtriebenen Churchill, der nur seinen eigenen Vorteil im Blick hat.
FAZIT
Diese Ausgrabung in Gießen sollte man sich wirklich nicht entgehen lassen, weil die musikalische Leistung ebenso überzeugt wie die szenische Umsetzung.



Aus: "Wetzlarer Neue Zeitung", 20.3.2012

Klaus Frahm: "'Krimi' mit ergreifenden Harmonien
Pacini-Oper 'Maria Tudor' feiert in Gießen Premiere"

Es ist ein Drama um Liebe, Verrat, Intrigen und Eifersucht, mit dem das Gießener Stadttheater am Samstagabend begeistert hat.
Mit Giovanni Pacinis Oper "Maria Tudor" ist dem Stadttheater eine Entdeckung gelungen, die Opernfreunden eine sehenswerte Aufführung mit wunderbarer Musik bietet. Die deutsche Erstaufführung des 1843 in Palermo uraufgeführten Werks fand vor fast ausverkauftem Haus statt. Die Oper basiert auf dem gleichnamigen Schauspiel von Victor Hugo.
Die Untreue kostet den verhassten Günstling den Kopf
Maria Chulkova spielte hingebungsvoll die junge Clotilde Talbot, die als armes Mündel des Arbeiters Ernesto Malcolm nicht weiß, dass sie der letzte Spross einer reichen Familie ist. Kurz vor der Hochzeit mit Ernesto, den Adrian Gans bieder und seriös auf die Bühne bringt, hat sie eine heiße Affäre mit dem Herzensbrecher Riccardo Fenimoore, den Leonardo Ferrando mit sehr viel Schmelz verkörpert.
Fenimoore ist der Liebhaber der Königin Maria Tudor, die Giuseppina Piunti verkörpert. Minister Gualtiero Churchill, gespielt von Riccardo Ferrari, entdeckt die Untreue des verhassten Günstlings und sorgt dafür, dass die Königin es erfährt. Sie verurteilt den Geliebten zum Tod auf dem Schafott.
Das Stück hat alles, was ein guter Krimi braucht und wäre es von Elisabeth George geschrieben, wäre Fenimoore am Ende sicher mit dem Leben davon gekommen und hätte Maria Tudor geheiratet.
In Victor Hugos Version muss der junge Mann für die Untreue sterben und der Langweiler Ernesto bekommt am Ende seine Clotilde und wird durch sie zum reichen Mann.
Der große Reiz der Oper liegt aber nicht in der Krimistory, die im nebligen London und später in einem Königsschloss spielt, das Großartige sind die Musik und die vielen wunderbaren Arien, Duette und Tutti. Etwa die Liebesschwüre zwischen Maria Chulkova und Adrian Gans, in ergreifenden Harmonien wird die Liebe gemalt, Untreue und schlechtes Gewissen fließen in zart gesetzten Disharmonien ein, immer wieder münden die Duette in wunderbar komplexen Tonbildern.
Umwerfend im zweiten Akt das Duett von Giuseppina Piunti mit Maria Chulkova, in dem die beiden hintergangenen Frauen sich verbünden, um Fenimoore zu vernichten. Ebenso brillant und ergreifend die Arien, in denen die beiden Frauen um die geliebten Männer klagen und sie dann doch vor dem Schafott bewahren wollen.
Im Bühnenbild von Lukas Noll kommt die gesamt Bühnentechnik raffiniert zum Einsatz und die Rundbögen, die sich bis weit in den Bühnenhimmel fortsetzen, werden zunächst zu Brückenbögen und dann zu den düsteren Hallen des Palastes. Chor und Extrachor, gekleidet in eine Mischung aus Uniform und Ölzeug, agieren als Hofstaat ebenso überzeugend, wie als neugierige Bevölkerung.
Unter der musikalischen Leitung von Eraldo Salmieri schafft das Orchester eine überzeugende Klangwelt.
Regisseur Joachim Rathke macht aus dem vergleichsweise kleinen Theater am Berliner Platz durch den raffinierten Einsatz aller technischen Möglichkeiten ein ganz großes Opernhaus. "Marie Tudor" ist erneut eine gelungene Darbietung in Gießen, die man uneingeschränkt empfehlen kann.

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