Aus „Nürnberger Nachrichten“, 16.4.2012

Jens Voskamp: „Das Findelkind wird weiter ein Rätsel bleiben“
Deutsche Erstaufführung der Kammeroper „Kaspar Hauser“ in Nürnberg – Kooperationsprojekt mit Glasgow

Nürnberg scheint ein gutes Pflaster für Opernstoffe zu sein: Einen beachtlichen Erfolg landete die Musikhochschule mit der deutschen Erstaufführung von „Kaspar Hauser – Child of Europe“ im Heilig-Geist-Saal.
Das nennt man, aus der Not eine Tugend machen: Weil das Saal-Bühnchen gerade einmal das kleine, mit Bassklarinette, Klavier und Cembalo samt Streichquartett originell besetzte Orchester fasst, haben Regisseur Joachim Rathke und Ausstatterin Dietlind Konold ein raumgreifendes Längspodium erdacht. Sinnbild für den kurzen Lebensweg des Sonderlings und gleichzeitig Labortisch, auf dem der „Man in Black“ (sehr präsent: Carl Rumstadt) den kauernden, noch nach Sprache suchenden Kaspar Hauser in einem Korbgefängnis ausgesetzt hat.
In vierzehn schlichten Szenen erzählt Autorin Dilys Rose die Geschichte, vom Fund des Jungen auf dem Unschlittplatz über seine verschiedenen Herbergen und Tutoren bis zur Ermordung in Ansbach, bewusst ein wenig naiv und klischeehaft, um das Rätselhafte zu betonen. Ob Hauser nun ein Aufschneider oder eine tragische Figur war, lässt auch diese Version offen. Aber sie zeigt ein Experiment.

Verspätete Pubertät

Und sie punktet mit einer Idealbesetzung: Manuel Krauß hat darstellerisch und sängerisch das Format, die Dauerrolle facettenreich wie verletzlich auszufüllen. Sein Hauser ist kein verdruckster Stotterer, sondern ein bildungshungriger junger Mann, dessen verspätete Pubertät ihn ein wenig zum Sextier macht, indem er seine Triebe ungezügelt auslebt. Krauß hat schon bei der Pocket Opera auf sein Talent aufmerksam gemacht. Bei ihm zahlt sich Karl-Friedrich Beringers Wortpägnanz-Schule hervorragend aus. Bei dem Ex-Windsbacher ist jedes Wort zu verstehen.
Auch seine Mitspieler gehen engagiert an die Sache, wenn auch das vokale Niveau durchaus variiert. Große szenische Anläufe können nicht genommen werden und darum verdient die Ensembleleistung (quasi das Semester-Lernziel der ganzen Sache) wirklich Anerkennung.
Das alles hat die Regie genau und mit wenigen treffenden Accessoires wie den Spielpferdchen herausgearbeitet, gruppiert die Akteure rings um oder eben auf dem Podium und macht sich doch auch zum Anwalt der Musik, die sie wenig konterkariert.
Der angesehene schottische Komponist Rory Boyle schreibt höchst sangbar, aber macht es den Instrumentalisten nicht eben leicht: Eine sehr verwobene, oft attackierende und dann wieder lyrisch versonnene Klangsprache tut sich auf, die mit Effekten herrlich spielt (etwa als Klavier und Cembalo ein Duett geben). Die übermäßige Terz wird zu einer Art Leitsignal, bis alles bei Kasparts Tod in eine einsame Bratschenklage versandet.
Dirigentin Jessica Cottis lenkte ihre bestens vorbereiteten und subtil aufspielenden Glasgower Musiker sehr energisch durch die 2010 uraufgeführte Partitur. Diese künstlerische Verzahnung mit schottischen und fränkischen Anteilen ging bestens auf. Jetzt geht das Stück nach Augsburg, Edinburgh und Glasgow.
Der Initiator des Projekts, Dirigent Guido Johannes Rumstadt, meinte launig: „Nach Hauser wäre es jetzt mal an der Zeit für eine Hans-Sachs-Oper.“ Okay, da haben Albert Lortzing und Richard Wagner bereits kleinere Versuche unternommen. Aber Komponist Rory Boyle und Librettistin Dilys Rose verrieten schon, dass sie bereits an einem neuen Stück werkeln. Nur zum Inhalt verraten sie noch kein Sterbenswörtchen.



Aus „Augsburger Allgemeine“, 19.4.2012

Stephanie Knauer: „Geschundenes Kind - Kaspar-Hauser-Oper als Gastspiel in Augsburg“

„Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen“ nannte Anselm von Feuerbach sein Buch über Kaspar Hauser. Der Rechtsgelehrte war Mentor des legendären Kinds. Auch in der Kammeroper „Child of Europe“ von Rory Boyle – 2010 uraufgeführt und nun von der Nürnberger Musikhochschule neu inszeniert – war die Grausamkeit an dem nur 21 Jahre alt werdenden Hauser vorherrschendes Thema.
Fast jede der 17 teils historisch belegten Figuren um Kaspar und seinen Mörder, die pittoresk gezeichnet waren, interessierte sich nur für die Kuriosität dieses Wolfskindes und für den eigenen Vorteil. Der Junge wurde verspottet, geschlagen, aber sein Wille ignoriert: Angetan mit Pappkrone und Quasi-Zwangsjacke dachte man unwillkürlich an Ecce-Homo-Darstellungen. Hausers über zehnjährige Haft im dunklen Kerker mit einem Holzpferd als einzigem Gefährten wurde hier dargestellt in einer Riesen-Voliere als Käfig und Schutz.
Die Darsteller der Inszenierung trugen Kleider der letzten zweihundert Jahre bis heute: Das untergrub die zeitliche Distanz; ebenso die Laufstegbühne ins Auditorium und die Sitzplätze der Darsteller unter den Zuschauern, wenn sie nicht spielten.

Souveränes Dirigat, vielschichtige Inszenierung

Dienstagabend gastierte die Nürnberger Koproduktion mit dem Royal Conservatoire of Scotland im Parktheater Göggingen. Leider kamen sehr wenig Besucher, man hätte mehr gewünscht. Die Nürnberger Sängerstudenten und die schottischen Orchestermusiker leisteten Großartiges unter der professionellen Leitung, dem angenehm souveränen Dirigat von Jessica Cottis und der vielschichtigen Inszenierung – allen voran Manuel Krauß als Kaspar Hauser.
Die moderne Tonsprache auswendig zu singen, ist bewundernswert: Rory Boyles Musik ist tonal ungebunden, obwohl sie hörbar aus der englischen Musik- und vor allem Chortradition stammt, unterstrichen noch durch die englische Sprache. Alte Choräle, Dowland- und Purcell-Melodik, Peter-Grimes-Farben oder Folk-Tunes klangen immer wieder durch. Diese „Atonalität“ hatte Ästhetik, war plastisch, sprechend und emotional und wurde, da kontinuierlich in ihrem Duktus, gut verständlich.
Die Inszenierung war gelungen, Ausstattung (Dietlind Konold) und Regie gingen Hand in Hand. Regisseur Joachim Rathke gab jeder Rolle einen runden Charakter, gestaltete jede der 14 kaleidoskopischen, sich zur Handlungskette fügenden Szenen zu einem schlüssigen, lebendigen Bild. Auftritte mit mehreren Agierenden waren fein ausgefeilt, als Strömung choreografierte Ensemble-Szenen wirkungsvoll dosiert. Der ganze Raum wurde ins Geschehen einbezogen, zauberhafte Geniestreiche (z. B. angestrahlte Mini-Discokugeln als Sternenhimmel), Doppelrollen und verblüffende Interaktionen und virtuose Regie-Details schufen eine albtraumhaft groteske Erlebniswelt.



Aus „Nürnberger Zeitung“, 17.4.2012

Thomas Susemihl: „Kaspar Hauser kommt zu neuen Ehren“

Die Gestalt im langen Mantel beobachtet mit regungslosem Gesichtsausdruck die Geschehnisse. Es ist der „Man in Black“ (Carl Rumstadt), der geheime Strippenzieher, der die Hauptfigur zuerst einsperrt, dann freilässt und am Ende tötet. Seine Erkennungsmerkmale sind eine Kasperlepuppe und ein Messer. Eine Hommage an Gert Fröbe und dessen Rolle als Kindermörder in „Es geschah am hellichten Tag“. Die Kammeroper „Kaspar Hauser – Child of Europe“ wurde am vergangenen Wochenende im Heilig-Geist-Saal aufgeführt.
Dafür verantwortlich zeichnet der schottische Komponist Rory Boyle. Es spielte das Kammerorchester des Royal Conservatoire of Scotland unter der Leitung von Jessica Cottis. Die Interpreten waren allesamt Nürnberger Gesangsstudenten, gesungen wurde in englischer Sprache. Ein ambitioniertes Projekt, das Regisseur Joachim Rathke und Ausstatterin Dietlind Konold da auf die Beine stellten. Insgesamt gibt es bei „Kaspar Hauser“ 17 Gesangsrollen und 14 mehr oder weniger lange Szenen.

Prinz oder Hochstapler auf dem Unschlittplatz?

Die Aufführung beginnt in Kaspars (Manuel Krauß) Gefängnis. Dieses wird durch einen überdimensionalen Korb symbolisiert. Hier lernt Kaspar rudimentär zu sprechen. Vor allem den berühmten Satz: „A söchtener Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is.“ Die englische Version lautet schlicht „I want to be a horseman like my father.“ Dann taumelt der etwa 16-jährige Junge in die Freiheit und taucht am Pfingstmontag, dem 26. Mai 1828, am Nürnberger Unschlittplatz auf.
Manuel Krauß überzeugt dabei sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch. Sein Kaspar ist einerseits kindlich unschuldig. Doch bezeichnet er sich selber als „Heiligen“ und wird in Gesellschaft von Frauen periodisch zudringlich. Ein profaner „Flugkuss“ reicht bald nicht mehr aus. Menschenexperiment oder Erbprinz aus Baden?
Zumindest ist Hauser hier kein Hochstapler. Da geht man nicht konform mit dessen zeitweiligem Vormund und Gönner Anselm Feuerbach. In Feuerbachs Nachlass fand sich nämlich ein Zettel, auf dem dieser notiert hatte: „Caspar Hauser ist ein pfiffiger, durchtriebener Kauz, ein Schelm, ein Taugenichts, den man todmachen sollte.“
Die Kammeroper findet auf keiner normalen Bühne statt. Die Handlung spielt vielmehr auf einem Steg, der den gesamten Heilig-Geist-Saal faktisch in zwei Hälften teilt. Darauf ist ein beachtlicher Ponyhof an hölzernen Pferden aufgereiht. Außer dem Findling und dem schwarzgewandeten Bösewicht sitzt der Rest der Mitwirkenden mit im Publikum. Die Gesangsstudenten gehen sichtlich in ihrer jeweiligen Rolle auf. Da gibt es den zupackenden Schankwirt, der Tucherflaschen am Kasten köpft. Den englischen Dandy im senfgelben Anzug und die leichtbekleidete Mesmeristin, die sich vor Kaspars Kainsmal graust.
Die offensichtliche Hingabe der Akreure hilft, der ansonsten holzschnittartigen Geschichte etwas Glanz zu verleihen. Das Stück entpuppt sich nämlich als leicht beliebig daherkommende Aneinanderreihung von Szenerien. Die Regie versucht hier und da, dem entgegenzuwirken. Eine gelungene Szene reiht Kaspar kurzfristig in ein Kuriositätenkabinett ein. Eine Art Zirkusdirektor präsentiert hier eine menschliche Menagerie. Diese beinhaltet Gestalten mit Huhn-, Schweine- oder Katzenmaske. Hauser bekommt eine goldene Krone aufgesetzt. Das „Kind Europas“ wird so zum König der Freak-Show.


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