Nürnberg scheint ein gutes Pflaster für Opernstoffe zu sein:
Einen beachtlichen Erfolg landete die Musikhochschule mit der deutschen
Erstaufführung von „Kaspar Hauser – Child of Europe“ im
Heilig-Geist-Saal.
Das nennt man, aus der Not eine Tugend machen: Weil das Saal-Bühnchen
gerade einmal das kleine, mit Bassklarinette, Klavier und Cembalo samt
Streichquartett originell besetzte Orchester fasst, haben Regisseur
Joachim Rathke und Ausstatterin Dietlind Konold ein raumgreifendes
Längspodium erdacht. Sinnbild für den kurzen Lebensweg des Sonderlings
und gleichzeitig Labortisch, auf dem der „Man in Black“ (sehr präsent:
Carl Rumstadt) den kauernden, noch nach Sprache suchenden Kaspar Hauser
in einem Korbgefängnis ausgesetzt hat.
In vierzehn schlichten Szenen erzählt Autorin Dilys Rose die
Geschichte, vom Fund des Jungen auf dem Unschlittplatz über seine
verschiedenen Herbergen und Tutoren bis zur Ermordung in Ansbach,
bewusst ein wenig naiv und klischeehaft, um das Rätselhafte zu betonen.
Ob Hauser nun ein Aufschneider oder eine tragische Figur war, lässt
auch diese Version offen. Aber sie zeigt ein Experiment.
Verspätete Pubertät
Und sie punktet mit einer Idealbesetzung: Manuel Krauß hat
darstellerisch und sängerisch das Format, die Dauerrolle facettenreich
wie verletzlich auszufüllen. Sein Hauser ist kein verdruckster
Stotterer, sondern ein bildungshungriger junger Mann, dessen verspätete
Pubertät ihn ein wenig zum Sextier macht, indem er seine Triebe
ungezügelt auslebt. Krauß hat schon bei der Pocket Opera auf sein
Talent aufmerksam gemacht. Bei ihm zahlt sich Karl-Friedrich Beringers
Wortpägnanz-Schule hervorragend aus. Bei dem Ex-Windsbacher ist jedes
Wort zu verstehen.
Auch seine Mitspieler gehen engagiert an die Sache, wenn auch das
vokale Niveau durchaus variiert. Große szenische Anläufe können nicht
genommen werden und darum verdient die Ensembleleistung (quasi das
Semester-Lernziel der ganzen Sache) wirklich Anerkennung.
Das alles hat die Regie genau und mit wenigen treffenden Accessoires
wie den Spielpferdchen herausgearbeitet, gruppiert die Akteure rings um
oder eben auf dem Podium und macht sich doch auch zum Anwalt der Musik,
die sie wenig konterkariert.
Der angesehene schottische Komponist Rory Boyle schreibt höchst
sangbar, aber macht es den Instrumentalisten nicht eben leicht: Eine
sehr verwobene, oft attackierende und dann wieder lyrisch versonnene
Klangsprache tut sich auf, die mit Effekten herrlich spielt (etwa als
Klavier und Cembalo ein Duett geben). Die übermäßige Terz wird zu einer
Art Leitsignal, bis alles bei Kasparts Tod in eine einsame
Bratschenklage versandet.
Dirigentin Jessica Cottis lenkte ihre bestens vorbereiteten und subtil
aufspielenden Glasgower Musiker sehr energisch durch die 2010
uraufgeführte Partitur. Diese künstlerische Verzahnung mit schottischen
und fränkischen Anteilen ging bestens auf. Jetzt geht das Stück nach
Augsburg, Edinburgh und Glasgow.
Der Initiator des Projekts, Dirigent Guido Johannes Rumstadt, meinte
launig: „Nach Hauser wäre es jetzt mal an der Zeit für eine
Hans-Sachs-Oper.“ Okay, da haben Albert Lortzing und Richard Wagner
bereits kleinere Versuche unternommen. Aber Komponist Rory Boyle und
Librettistin Dilys Rose verrieten schon, dass sie bereits an einem
neuen Stück werkeln. Nur zum Inhalt verraten sie noch kein
Sterbenswörtchen.
„Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen“
nannte Anselm von Feuerbach sein Buch über Kaspar Hauser. Der
Rechtsgelehrte war Mentor des legendären Kinds. Auch in der Kammeroper
„Child of Europe“ von Rory Boyle – 2010 uraufgeführt und nun von der
Nürnberger Musikhochschule neu inszeniert – war die Grausamkeit an dem
nur 21 Jahre alt werdenden Hauser vorherrschendes Thema.
Fast jede der 17 teils historisch belegten Figuren um Kaspar und seinen
Mörder, die pittoresk gezeichnet waren, interessierte sich nur für die
Kuriosität dieses Wolfskindes und für den eigenen Vorteil. Der Junge
wurde verspottet, geschlagen, aber sein Wille ignoriert: Angetan mit
Pappkrone und Quasi-Zwangsjacke dachte man unwillkürlich an
Ecce-Homo-Darstellungen. Hausers über zehnjährige Haft im dunklen
Kerker mit einem Holzpferd als einzigem Gefährten wurde hier
dargestellt in einer Riesen-Voliere als Käfig und Schutz.
Die Darsteller der Inszenierung trugen Kleider der letzten zweihundert
Jahre bis heute: Das untergrub die zeitliche Distanz; ebenso die
Laufstegbühne ins Auditorium und die Sitzplätze der Darsteller unter
den Zuschauern, wenn sie nicht spielten.
Souveränes Dirigat, vielschichtige Inszenierung
Dienstagabend gastierte die Nürnberger Koproduktion mit dem Royal
Conservatoire of Scotland im Parktheater Göggingen. Leider kamen sehr
wenig Besucher, man hätte mehr gewünscht. Die Nürnberger
Sängerstudenten und die schottischen Orchestermusiker leisteten
Großartiges unter der professionellen Leitung, dem angenehm souveränen
Dirigat von Jessica Cottis und der vielschichtigen Inszenierung – allen
voran Manuel Krauß als Kaspar Hauser.
Die moderne Tonsprache auswendig zu singen, ist bewundernswert: Rory
Boyles Musik ist tonal ungebunden, obwohl sie hörbar aus der englischen
Musik- und vor allem Chortradition stammt, unterstrichen noch durch die
englische Sprache. Alte Choräle, Dowland- und Purcell-Melodik,
Peter-Grimes-Farben oder Folk-Tunes klangen immer wieder durch. Diese
„Atonalität“ hatte Ästhetik, war plastisch, sprechend und emotional und
wurde, da kontinuierlich in ihrem Duktus, gut verständlich.
Die Inszenierung war gelungen, Ausstattung (Dietlind Konold) und Regie
gingen Hand in Hand. Regisseur Joachim Rathke gab jeder Rolle einen
runden Charakter, gestaltete jede der 14 kaleidoskopischen, sich zur
Handlungskette fügenden Szenen zu einem schlüssigen, lebendigen Bild.
Auftritte mit mehreren Agierenden waren fein ausgefeilt, als Strömung
choreografierte Ensemble-Szenen wirkungsvoll dosiert. Der ganze Raum
wurde ins Geschehen einbezogen, zauberhafte Geniestreiche (z. B.
angestrahlte Mini-Discokugeln als Sternenhimmel), Doppelrollen und
verblüffende Interaktionen und virtuose Regie-Details schufen eine
albtraumhaft groteske Erlebniswelt.
Die Gestalt im langen Mantel beobachtet mit regungslosem
Gesichtsausdruck die Geschehnisse. Es ist der „Man in Black“ (Carl
Rumstadt), der geheime Strippenzieher, der die Hauptfigur zuerst
einsperrt, dann freilässt und am Ende tötet. Seine Erkennungsmerkmale
sind eine Kasperlepuppe und ein Messer. Eine Hommage an Gert Fröbe und
dessen Rolle als Kindermörder in „Es geschah am hellichten Tag“. Die
Kammeroper „Kaspar Hauser – Child of Europe“ wurde am vergangenen
Wochenende im Heilig-Geist-Saal aufgeführt.
Dafür verantwortlich zeichnet der schottische Komponist Rory Boyle. Es
spielte das Kammerorchester des Royal Conservatoire of Scotland unter
der Leitung von Jessica Cottis. Die Interpreten waren allesamt
Nürnberger Gesangsstudenten, gesungen wurde in englischer Sprache. Ein
ambitioniertes Projekt, das Regisseur Joachim Rathke und Ausstatterin
Dietlind Konold da auf die Beine stellten. Insgesamt gibt es bei
„Kaspar Hauser“ 17 Gesangsrollen und 14 mehr oder weniger lange Szenen.
Prinz oder Hochstapler auf dem Unschlittplatz?
Die Aufführung beginnt in Kaspars (Manuel Krauß) Gefängnis. Dieses wird
durch einen überdimensionalen Korb symbolisiert. Hier lernt Kaspar
rudimentär zu sprechen. Vor allem den berühmten Satz: „A söchtener
Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is.“ Die englische Version
lautet schlicht „I want to be a horseman like my father.“ Dann taumelt
der etwa 16-jährige Junge in die Freiheit und taucht am Pfingstmontag,
dem 26. Mai 1828, am Nürnberger Unschlittplatz auf.
Manuel Krauß überzeugt dabei sowohl stimmlich wie auch
schauspielerisch. Sein Kaspar ist einerseits kindlich unschuldig. Doch
bezeichnet er sich selber als „Heiligen“ und wird in Gesellschaft von
Frauen periodisch zudringlich. Ein profaner „Flugkuss“ reicht bald
nicht mehr aus. Menschenexperiment oder Erbprinz aus Baden?
Zumindest ist Hauser hier kein Hochstapler. Da geht man nicht konform
mit dessen zeitweiligem Vormund und Gönner Anselm Feuerbach. In
Feuerbachs Nachlass fand sich nämlich ein Zettel, auf dem dieser
notiert hatte: „Caspar Hauser ist ein pfiffiger, durchtriebener Kauz,
ein Schelm, ein Taugenichts, den man todmachen sollte.“
Die Kammeroper findet auf keiner normalen Bühne statt. Die Handlung
spielt vielmehr auf einem Steg, der den gesamten Heilig-Geist-Saal
faktisch in zwei Hälften teilt. Darauf ist ein beachtlicher Ponyhof an
hölzernen Pferden aufgereiht. Außer dem Findling und dem
schwarzgewandeten Bösewicht sitzt der Rest der Mitwirkenden mit im
Publikum. Die Gesangsstudenten gehen sichtlich in ihrer jeweiligen
Rolle auf. Da gibt es den zupackenden Schankwirt, der Tucherflaschen am
Kasten köpft. Den englischen Dandy im senfgelben Anzug und die
leichtbekleidete Mesmeristin, die sich vor Kaspars Kainsmal graust.
Die offensichtliche Hingabe der Akreure hilft, der ansonsten
holzschnittartigen Geschichte etwas Glanz zu verleihen. Das Stück
entpuppt sich nämlich als leicht beliebig daherkommende
Aneinanderreihung von Szenerien. Die Regie versucht hier und da, dem
entgegenzuwirken. Eine gelungene Szene reiht Kaspar kurzfristig in ein
Kuriositätenkabinett ein. Eine Art Zirkusdirektor präsentiert hier eine
menschliche Menagerie. Diese beinhaltet Gestalten mit Huhn-, Schweine-
oder Katzenmaske. Hauser bekommt eine goldene Krone aufgesetzt. Das
„Kind Europas“ wird so zum König der Freak-Show.