Le Freyschütz

Wir befinden uns auf dem Polterabend von Max und Agathe. Doch ist die morgige Hochzeit noch gar nicht sicher: Ein willkürlicher Treffer wird über das Schicksal dieser jungen Liebe entscheiden. Max hat in der letzten Zeit kein Jagdglück mehr gehabt. Er zweifelt an sich und seiner Fähigkeit, Agathe zu erringen. Er zweifelt an seiner Männlichkeit. Um der aufsteigenden Panik Herr zu werden, hat er sich daran gewöhnt, zu trinken - erst nur abends, in letzter Zeit immer früher am Tag. Natürlich, sein Jagdglück bleibt auch deshalb aus. Seine Besuche bei Agathe sind seltener geworden und kürzer: Kaum angekommen, treiben ihn seine Zweifel und auch sein Gewissen aus ihrer Nähe.

Auch Agathe ist zunehmend verunsichert. Sie glaubte Max zu kennen, nun ist er immer fremder geworden. Er ist eigentlich nicht mehr der Mann, in den sie sich verliebt hatte. Sie ist verwirrt und hat das Gefühl, ihre Liebe verloren zu haben. Das darf nicht sein; umso mehr sie - angesichts der nahenden Hochzeit - ins Zweifeln kommt, umso verzweifelter werden ihre Gedanken an Gott; sie sucht Halt und Trost im Glauben, da sie beides in ihrer Realität nicht findet.

Das Gegenstück zu Agathe ist eigentlich Kaspar. Agathe hat sich von ihm um Maxens willen abgewandt; da beginnt auch für Ihn die Suche nach Halt. Er sucht im Spiel, in anderen Frauengeschichten, die ihm aber Agathe nicht ersetzen können; sucht im Alkohol. Er wird süchtig nach dem, was er Leben nennt, nach immer zügelloseren Befriedigungen. Er zieht sich zunehmend von den Kameraden, von allen Menschen überhaupt zurück und wird ihnen unheimlich; nur der Wirt der Waldschenke scheint ihn zu verstehen¸ mit ihm kann er reden an langen einsamen Abenden. Als er endlich merkt, wem er sich da anvertraut, ist auch das ihm schon egal; es freut ihn sogar auf die wilde Art, in welcher trunkene Menschen ihrem Untergang entgegeneilen. Vom Wirt durch sanfte, unbestimmte Worte verleitet, beschließt er, sich an Max und Agathe zu rächen und hat so fortan einen neuen Sinn in seinem elenden Leben. Und es gibt Vorteile: Durch seine Freikugeln hat er mehr Glück als die anderen Jäger; es fehlt ihm an nichts Materiellem, an nichts Sinnlichem; nur der Sinn an allem entzieht sich ihm immer mehr. Seine Welt verdüstert sich; er stolpert nur dem einen Ziel noch hinterher, Agathes Verrat an ihm zu rächen und merkt nur sehr dunkel, dass ihm sein eigenes Leben längst abhanden gekommen ist.

Und so führt uns der Schuss, mit dem Kilian den Vogel ab- und Max in größte Verzweiflung schießt, direkt in den Gasthof am Polterabend von Max und Agathe.
Die drei Hauptfiguren sind keine Ausnahmen: Nach dem langen Krieg bar aller Illusionen um Liebe, um Gott, um Sicherheit in irgendeiner Form, versucht ein jeder, irgendwie sein Leben zu bewältigen, ohne vor Angst im nächsten Moment verrückt zu werden. Man raucht, man trinkt und spielt, man betäubt sich mit allem, was man finden kann, um nur nicht nachdenken, sich stellen zu müssen. Es ist eine trostlose, aggressive Stimmung, in welcher Max gerade das Königsschießen verliert und Agathe und Ännchen auf den Bräutigam warten.

Auch Kuno bildet keine Ausnahme; in tiefster Seele zweifelnd, ob sein Vorfahr tatsächlich rechtmäßig die Erbförsterei erwarb, treibt ihn das schlechte Gewissen, die Furcht um, eines Tages werde plötzlich offenbar, dass er ohne jeden rechtmäßigen Anspruch in seinem heruntergekommenen Jagdschlösschen sitzt. Er hat Angst vor einer Enthüllung und erzählt immer wieder die wundersame Geschichte seines Urgroßvaters Kuno und dessen Probeschuss. Auch er ist an diesem Abend nervös, was der nächste Morgen wohl bringen werde. Natürlich hat auch er bemerkt, wie schlecht es Max auf der Jagd ergeht; wie merkwürdig sich seine Tochter seit einiger Zeit verhält; es ist unangenehm geworden zuhause, und er hat Angst, dass dieses Zuhause, welches er seit dem Tod seiner Frau sich mit Agathe eingerichtet hat, endgültig verloren gehen könnte.
So ist er auch zu Max sehr streng und gleichzeitig von Furcht erfasst, als er erfahren muss, dass Max auch heute stets gefehlt hat.
Eine lange Nacht liegt vor den Figuren des Stückes, die immer tiefer in die Dunkelheit und den Schrecken führen wird. Die Nacht der Wolfsschlucht ist die Nacht, in der der Mensch dem Menschen zum Wolfe wird. Max trifft hier nicht nur auf Kaspar: Wie ein Umkehrbild der Realität des Tages findet er auch die anderen Bewohner des Dorfes vor, im Schlafe wachend, wie im Albtraum eines düsteren Festes auf Menschenjagd zu gehen. "Nicht ohne Widerstand schenken verborgene Naturen den Sterblichen ihre Schätze."

Und doch steigt am Hochzeitsmorgen neues Licht auf: Der ausweglos erscheinenden Situation setzt Webers Musik im Finale die Kraft der Hoffnung entgegen: Ein Leuchtfeuer der Orientierung für alle verlorenen Menschenkinder. Ein wundersames Zeichen gerade für uns am Ende des noch immer kriegerischen Zwanzigsten Jahrhunderts.

Joachim Rathke

Echo

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