Nutzlose Vorsicht

Bartolo verschließt Rosina in seinem Haus: sie ist ja sein größter Schatz; ihre Hand zu gewinnen bedeutet eine junge schöne Braut und - vor allem - eine gewaltige Mitgift.

Seinem Haus kommt somit eine Art Hauptrolle in unserem Stück zu: es ist ein Gefängnis für Rosina, die Mauern sind ihr Hindernis und wollen mit List überwunden werden. Für Bartolo ist es Schutz dessen, was er unrechtmäßig für sein rechtmäßiges Eigentum hält; für Marcellina schließlich, die dritte Bewohnerin, ist es beides - Käfig und gleichzeitig hütendes Gehäuse einer Unentschlossenen.
Und wie es einer Hauptrolle zusteht, haben wir diesem Haus ein differenziertes Eigendasein verliehen: es lebt und es bewegt sich, es reagiert auf seine Bewohner; mal wächst es, mal zieht es sich zusammen; die einzelnen Teile scheinen unabhängig voneinander zu existieren und selbständig ihre Anordnung zueinander zu verändern - und mit ihren Bewegungen auch durchaus Partei zu ergreifen.

Bartolo handelt in diesem gleichsam magischen Umfeld sehr umsichtig und mit größter Vorsicht: allen Unwägbarkeiten versucht er jeweils zuvorzukommen, jeden Kontakt Rosinas zur Außenwelt zu verhindern, denn: man kennt ja diese Komödien!
Sie steuern - nicht ohne Umwege allerdings, aber doch unaufhaltsam - auf das glückliche Ende zu, ob die Betroffenen nun wollen oder nicht.
Und es scheint so, als wüssten die Figuren in Rossinis commedia dies auch ganz genau. Schon in Rosinas erstem Auftritt fällt das entscheidende Stichwort: sie verliert einen Zettel, auf welchem angeblich ein Arientext aus der Oper "Die nutzlose Vorsicht" geschrieben steht. Kann Rosina denn schon wissen, wie "nutzlos" Bartolos Vorsicht sein wird? Immer wieder zieht sie ihn mit dieser angeblichen neuen Oper auf, und sogar könnte man denken, es gäbe da ein geheimes Einverständnis mit Bartolo: er beklagt sich zwar und müht sich weiter, sie unter Aufsicht zu halten - scheint es im Grunde aber eigentlich besser zu wissen.

Unaufhaltsam ist der Kontrollverlust, mehr und mehr durchdringen Briefe, Botschaften und Absprachen die anfangs festgefügten Mauern des Hauses. Und es wirkt so, als wäre das Haus auf Rosinas Seite, als würde es geradezu mithelfen bei ihrer Befreiung: indem es immer neue Schlupfwege öffnet. Wo anfangs nur eine Luke war, ist plötzlich ein Fenster; weit auseinanderliegende Zimmer rücken zusammen und hinterlassen Öffnungen ins Freie; das mit so großer Vorsicht errichtete Gefängnis erweist sich als absolut porös; jedes Schlüsselloch wird zur Chimäre, weil das, was es abzuschließen gilt, gar nicht mehr existiert.

So steuert auch in dieser Komödie mit ihrer klassischen Mechanik alles auf das glückliche Ende, auf Rosinas Befreiung hin.
Was die Zukunft ihr bringen wird: schon hebt das "Porgi amor" der Gräfin Almaviva an in unseren Köpfen - gesungen von der unglücklichen Rosina, die in Mozarts "Hochzeit des Figaro" in einem zweiten goldenen Käfig angekommen ist...

Joachim Rathke

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